Michelle Gisin wird mit 125,74 km/h geblitzt! Nein, keine Angst, die Engelbergerin ist keine Verkehrssünderin. Den Adrenalin-Kick holt sie sich nur beim Skifahren. «Ich habe das Tempo im Blut und bin überzeugt, dass es eine coole Speed-Saison wird», sagt sie. In Lake Louise lässt sie den Worten erste Taten folgen. Auf ihren schmalen Latten ist sie im Training so schnell unterwegs, dass sie dafür auf Schweizer Strassen gebüsst würde.
Selbstverständlich ist dies nicht. Warum? Erstens: Gisin ist ursprünglich eine Slalom-Fahrerin, erst letzte Saison wagte sie sich vermehrt auf die Speed-Disziplinen. Zweitens: Die 24-Jährige ist zum ersten Mal überhaupt in Lake Louise – auf der Hochgeschwindigkeits-Strecke fehlen also wichtige Erfahrungswerte. Und Drittens: Sie kommt von einer Verletzung (Innenbandanriss im rechten Knie) zurück.
Der letzte Punkt ist der Grund, warum die jüngere Schwester von Olympiasiegerin Dominique überhaupt Vollgas geben kann. Ihre Verletzung ist, sechs Wochen nach dem Sturz im Riesenslalomtraining, verheilt. Genau wie von den Ärzten prognostiziert. «Mein Knie fühlt sich sehr gut an, ich kann jetzt sogar ohne Schiene fahren», so Gisin.
Man merkt: Michelle ist happy. Das war sie auch zuletzt, nach ihrem 10. Slalom-Platz in Killington (USA). «Darauf kann ich aufbauen», so Gisin. Nach zwei Zickzack-Rennen ist vorerst aber Schluss mit dem Tanz im Stangenwald. Sie freut sich wie ein kleines Kind, dass sie nun Tempo bolzen darf. Viel Erfahrung darin hat Gisin nicht. Gerade einmal vier Abfahrten bestritt sie bislang in ihrer Karriere. Aber: Schon bei der Premiere vor einem Jahr in Val d'Isère fuhr sie bärenstark. Man kann sogar sagen, dass sie die Ski-Welt mit dem siebten Platz schockte. Die folgenden Abfahrts-Ränge: 32 (Altenmarkt), 24 (Cortina) und 12 (Jeongseon).
Mit beinahe 130 km/h, also so wie jetzt in Lake Louise, war Michelle allerdings noch gar nie unterwegs. «Ich will keine reine Slalomfahrerin mehr sein, sondern auch eine Abfahrerin», sagt sie. Den Beweis, dass sie es ist, hat sie erbracht.