Michelle Gisin, wie geht es Ihrem Bruder nach seinem Unfall?
Michelle Gisin: Es geht bergauf. Er konnte das Spital in Luzern verlassen und ist wieder zu Hause. Am Samstag rief er mich an und gratulierte.
Blicken wir zurück. Kurz nach Marcs Sturz fuhren Sie in Gröden auf der gleichen Strecke. Ihr Gefühl?
Als ich das erste Mal auf der Piste war, ist es mir extrem eingefahren. Dementsprechend fiel auch mein Training aus. Ich hatte Beine wie Stelzen, war total verkrampft. So was hatte ich noch nie erlebt.
Doch Sie fuhren die Rennen, obwohl Marc im Spital lag.
Ich hatte das Gefühl dass es ihm und der Familie wichtig war, dass wir uns mit dem Ort seines Unfalls versöhnen. Das tönt etwas seltsam, aber so war es.
Kopf und Lunge «ein anderes Level»
Die Plätze 18 und 24 in den Rennen waren nebensächlich?
Absolut. Nach dem Super-G am Sonntag war ich fix und fertig,
die Luft war komplett draussen. Nicht, weil die Rennen körperlich so anspruchsvoll gewesen wären – ich war ja eigentlich super drauf. Aber die Ungewissheit, wie es Marc ging, saugte mir jegliche Energie aus dem Körper. Sogar meine Arme waren übersäuert, ich konnte im Zielraum kaum noch die Ski heben. Die Freude am Skifahren war total verschwunden. Mir war da klar: Jetzt muss ich nach Hause und zu Marc!
Sie haben früher immer wieder erlebt, wie Ihre Schwester Dominique im Spital lag. Und auch Marcs Schädel-Hirn-Trauma in Kitzbühel war ein harter Schlag. Gewöhnt man sich nie daran?
Wenn die Knie, oft die Kreuzbänder, betroffen sind, ist es einfacher. Das gehört ja schon fast zu unserem Leben. Aber wenn es wie bei Marc um den Kopf und die Lunge geht, ist das nochmals ein anderes Level. Ich habe eine sehr enge Verbindung zur Familie. Es ist wie bei anderen Menschen: Wenn jemand leidet, den man liebt, ist das brutal. Ich konnte nichts tun, war hilflos – es tat mir natürlich weh.
Obwohl sich Marc den Umständen entsprechend gut erholte, legten Sie eine Rennpause ein. Warum?
Ich musste erst wieder positive Emotionen aufbauen. Das ist gar nicht so einfach, wenn der Bruder im Spitalbett liegt. Die erste Woche machte ich gar nichts. Ich war nur zu Hause und bei Marc. Das war mir wichtig.
Michelles Geschenk für Marc
Haben Sie Marc ein Geschenk gemacht?
Als er sich vor vier Jahren schwer verletzte, kaufte ich ihm ein Plüschtier zur raschen Genesung. Das nahm ich ihm wieder mit.
Was für eins?
Einen Plüsch-Panther. Er ist ziemlich cool. Als er ihn sah, sagte Marc aber: «Was soll ich damit?!» Zum Glück war das Fenster weit weg vom Bett (lacht).
Etwas frech, nicht?
So ist er halt (schmunzelt). Später brachte ich ihm selbst gebackene Weihnachtsguetsli. Er meinte aber, dass Spitzbuben fehlen würden.
Ihre Reaktion?
Ich habe das nachgeholt und brachte ihm eine doppelte Ration. Sie waren rasch weg.
Konnten Sie die Batterien in der zweiten Woche Ihrer Pause wieder aufladen?
Ja. Ich habe Kondi-Einheiten gemacht und war auch mit dem Skiklub Engelberg unterwegs auf den Pisten. Das tat sehr gut. Ich wusste, dass es Marc besser ging – er konnte bereits den Gang im Spital rauf und runter gehen.
Wie feierten Sie Weihnachten?
Mit der Familie. Ohne Marc war es mehr ein Erleben als ein Feiern – und trotzdem schön.
Wie gehts Ihnen heute?
Sehr gut. Marc fragte mich während meiner Pause: «Willst du nicht mal wieder Rennen fahren?» Ich musste lachen. Jetzt bin ich wieder im Rennfieber. Ich finde die Freude am Skifahren langsam wieder.
Wünschen Sie, dass Marc eines Tages wieder Rennen fährt?
Das ist sein Entscheid. Er soll einfach wissen, dass ich ihn, egal was er macht, immer unterstützen werde.
Am Dienstagabend fahren Sie in Flachau. Dort erlebten Sie Ihre erste Sternstunde
im Ski-Zirkus. Erinnern Sie sich?
Das vergesse ich nie. Es war eine Riesen-Aufregung, ich bin im Zielraum herumgehühnert und wusste nicht, wie mir geschah.
Sie waren 19 und fuhren im zweiten Lauf völlig entfesselt Laufbestzeit.
Es ist bis heute einer der besten Slalom-Läufe meines Lebens. Platz 9 in meinem dritten Weltcuprennen. Dazu mein Eltern, die vor Ort zuschauten. Ganz speziell. Mein Bruder Marc machte damals ein Foto vom TV-Bild, wie ich voller Aufregung in der Leaderbox sitze. Ich sehe aus wie eine Irre. Noch heute neckt er mich damit. Und auch mein Freund Luca findet es wahnsinnig lustig.
Sie waren sogar schneller als Siegerin Mikaela Shiffrin. Das wäre heute auch in Ihrem Sinn, oder?
Damit könnte ich leben (lacht)! Im Ernst: Der Hang in Flachau gefällt mir sehr. Der wellige Kurs, das Flutlicht, Tausende Zuschauer, die man schon am Start hört – genial.
Shiffrin gratulierte Ihnen zuletzt nach dem 7. Rang in Zagreb via Twitter. Und wünschte Ihrem Bruder Marc weiterhin gute Erholung. Was bedeutet Ihnen das?
Das ist sehr, sehr cool. Ich habe mit Mikaela im Zielraum gesprochen. Sie wollte wissen, wie es Marc geht. Die Reaktionen von so vielen Athletinnen – nicht nur von Shiffrin – sind überwältigend. Es ist allen nah gegangen, was Marc passiert ist.
Am 15. Dezember verunfallte Skirennfahrer Marc Gisin bei der Abfahrt in Gröden schwer. Der Engelberger geriet vor den Kamelbuckeln aus dem Gleichgewicht, wurde abgehoben und prallte heftig auf die Piste. Der Bruder von Michelle und Dominique Gisin zog sich Rippenbrüche und eine Beckenverletzung zu. Nach seinem Abflug an der Hausbergkante in Kitzbühel 2015 war es bereits sein zweiter Horror-Sturz im Weltcup.
Am 15. Dezember verunfallte Skirennfahrer Marc Gisin bei der Abfahrt in Gröden schwer. Der Engelberger geriet vor den Kamelbuckeln aus dem Gleichgewicht, wurde abgehoben und prallte heftig auf die Piste. Der Bruder von Michelle und Dominique Gisin zog sich Rippenbrüche und eine Beckenverletzung zu. Nach seinem Abflug an der Hausbergkante in Kitzbühel 2015 war es bereits sein zweiter Horror-Sturz im Weltcup.