Als Ex-Skirennfahrerin Dominique Gisin (34) erstmals mit einem Kreuzbandriss im Spital lag, war Michelle Gisin (25) fünf Jahre alt. Sie erlebte das Leiden ihrer grossen Schwester hautnah mit – und auch ihre weiteren, schlimmen Verletzungen. Auch darum versprach Michelle ihrer Mutter Bea mehrere Jahre später, sich im Gegensatz zu ihrer Schwester auf den Slalom zu konzentrieren – zumindest vorerst.
Diese Zeiten sind längst vorbei. In ihrem dritten Speed-Winter strebt Gisin den Gewinn des Abfahrtsweltcups an. Aber nicht um jeden Preis. «Wenn es brenzlig wird, riskiere ich nicht mein Leben», sagt sie. Die Engelbergerin weiss genau, was eine Verletzung auslösen kann – nicht nur bei ihrem Mami. Als Michelles Bruder Marc im letzten Winter in Val Gardena (It) brutal abflog und schwer verletzt auf der Intensivstation lag, nahm dieser Schicksalsschlag die ganze Familie enorm mit.
Furcht als Schutz vor Selbstüberschätzung
Nun stellt sich die Frage: Wie kann eine Fahrerin wie Gisin, die das Tempo im Blut hat, Verletzungen vermeiden? Sie ist überzeugt, dass nicht nur eine gute Technik und eine starke Physis wichtig sind – sondern auch Angst. Sie gibt offen zu: «Ich habe manchmal Angst.» Schlimm sei das nicht. Im Gegenteil. Furcht als Schutz vor Selbstüberschätzung. Gisin spricht ein Tabu-Thema an. Denn: Kaum eine Fahrerin im Weltcup gibt offen zu, Angst zu haben – man will ja keine «Schwäche» zeigen.
Lange Zeit dachte die Kombi-Olympiasiegerin ähnlich. Bis Technik-Coach Alois Prenn ihr sagte: «Angst ist etwas Gutes, du musst sie nicht bekämpfen.» Seither fühlt sich Gisin wohler – auch dann, wenn sie mit 120 km/h den Berg runterdüst. «Seine Worte haben mir die Augen geöffnet. Ich kann seither besser mit meiner Angst umgehen.»
«Mühe mit der Überwindung»
Nun ist es nicht so, dass Gisin ständig ein flaues Gefühl im Magen hat. Dennoch gibt es Momente, in denen sie sich nicht traut, Vollgas zu geben. So wie zuletzt in den Abfahrten in Lake Louise (Ka), wo sie auch wegen der schlechten Sicht nur auf die Ränge 15 und 19 fuhr. «Ich hatte Mühe mit der Überwindung», so Gisin.
Ob dies auch im Super-G von St. Moritz so sein wird? Die Wetterprognosen sind nicht die besten.