Mensch Lara!
Warum die Schweiz zu Unrecht mit Gut-Behrami fremdelt

Die Beziehung zwischen Lara Gut-Behrami und der Sportschweiz ist kompliziert. Wie es so weit kommen konnte, was Granit Xhaka damit zu tun hat und weshalb wir sie irgendwann vermissen werden. Szenen einer Ehe zwischen ihr und uns allen.
Publiziert: 13.03.2024 um 16:36 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2024 um 08:05 Uhr
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Ein Mädchen namens Lara Gut: 2007 posierte sie als 16-Jährige für Blick.
Foto: Blicksport

Sotschi, 12. Februar 2014. Ein Tag für die Geschichtsbücher des Schweizer Sports. In Russland krönt sich Dominique Gisin zur Abfahrts-Olympiasiegerin. Während sie auf dem Podest ihr Glück kaum fassen kann, steht auf dem Bronze-Treppchen eine frustrierte Lara Gut. Von Freude über die erste Olympiamedaille ihrer Karriere keine Spur.  

Warum für Gut Bronze nur ein schwacher Trost ist, erklärt die damals 22-Jährige anschliessend erstaunlich ehrlich: «Ich dachte immer, ich würde mich riesig freuen, wenn ich eine Medaille hole. Aber ich lag bei der letzten Zwischenzeit noch vor Dominique und machte dann einen kleinen Fehler. Deshalb der Frust. Es tut mir leid, dass ich anfänglich so reagiert habe. Meine Fahrt war halt nicht fehlerfrei. Das regt mich auf.» 

Lara Gut-Behrami. Ein Name, der schon damals, in Sotschi 2014, polarisiert hat. Er tut es bis heute. Häufig hat man das Gefühl, dass die Schweiz nicht bereit ist für eine wie sie. Die mal offen sagt, was sie denkt. Die aber auch mal schweigt und an allen schnöde vorbeiläuft, wenn sie keine Lust aufs Auskunftgeben hat.

Die Schweizer Sport-Lieblinge der Vergangenheit waren immer anders. Angepasster, freundlicher, offener. Dadurch wurden Russi, Fedi, Vreni, Ferdy und Co. zu nationalen Heiligtümern. Auf diesem Weg befindet sich zurzeit auch Odi. Geliebt von allen, ein Teil von uns.

Ist Gut-Behrami die weibliche Version von Xhaka?

Gut-Behrami aber passt nicht in diese Reihe. Sie ist eher die weibliche Version eines Granit Xhaka – unangepasst, nonkonform, ein Mensch mit Ecken und Kanten. Deshalb fremdelt die Schweiz noch immer mit der Tessinerin und sie wohl umgekehrt auch regelmässig mit Herrn und Frau Schweizer.

Dabei war doch der Start in die Beziehung zwischen der Sportschweiz und der jungen Lara noch ein friedlicher und herzergreifender.

St. Moritz, 2. Februar 2008. Mit der Nummer 32 startet die erst 16-jährige Lara Gut zu ihrer ersten Weltcup-Abfahrt. Kurz vor dem Ziel zerreisst es ihr die Ski, sie stürzt und rutscht auf dem Rücken liegend über die Ziellinie. Das Verrückte dabei: Sie wird trotzdem noch Dritte und steht dadurch in ihrem fünften Weltcuprennen erstmals auf dem Podest. 

Als sie sich im Zielraum wieder aufrappelt und realisiert, was ihr soeben gelungen ist, lacht sie herzhaft, winkt überglücklich ins Publikum. Ihr Milchgesicht noch voller Schnee und ihre Augen funkelnd. Im TV-Interview redet sie anschliessend so schnell und übersprudelnd, dass es schwierig ist, sie zu verstehen. An jenem denkwürdigen Tag fährt sie sich in die Herzen der Sportfans, und die Schweiz hat nach Jahren des Darbens endlich wieder ein neues, schnelles Ski-Schätzchen der Nation. 

Es hätte der Beginn einer wunderbaren Liebe werden können. Wurde es aber nicht. Was danach zwischen Gut-Behrami, den Medien und den Fans schieflief, ist schwierig zu sagen. Immer mehr kapselte sie sich in den Jahren danach ab. Reagierte schnippisch auf Fragen, die ihr nicht passten. Spielte das Geben und Nehmen, an das sich bislang all unsere Skistars stets artig gehalten hatten, nicht mit. Machte lieber böse Miene zum bösen Spiel. Lehnte die Rolle des Ski-Schätzchens der Nation (zugegeben, ein Relikt aus den 80ern und 90ern) kategorisch und vehement ab.

«... desto einsamer fühlst du dich»

Wie es der mittlerweile jungen Frau in jenen 2010er-Jahren wirklich ging, behielt sie stets für sich. Erst im Dokumentarfilm «Looking for Sunshine» des Tessiners Niccolò Castelli, der 2018 erschien, erfuhr die Öffentlichkeit, dass da eine verunsicherte Sportlerin war, die sich auf dem Weg an die Weltspitze als Mensch verloren hatte und die eigentlich nur etwas wollte: Rennen fahren. Und die etwas ganz bestimmt nicht wollte: im Rampenlicht stehen und als Objekt bewertet werden.

Das grosse Missverständnis, es hatte längst seinen Lauf genommen. «Je weiter du an die Spitze kommst, desto einsamer fühlst du dich. Immer weniger Menschen verstehen dich», erzählte Gut-Behrami im Dok. Und weiter: «Ich wollte immer schneller, höher, besser sein. Das war immer meine Stärke, aber auch meine Schwäche, weil ich am Ende nie zur Ruhe kam. Der Kopf sagte schon lange, es ist zu viel.»

Im Dok sagte die damals 26-Jährige auch einen Satz, der rückblickend aufhorchen lässt und vieles erklärt: «Das letzte Mal, als ich mich als Mensch fühlte, war ich 18.» Schon zuvor hatte sie mal offenbart: «Ich war manchmal verloren und wusste nicht, was das Beste für mich ist. Ich musste einfach liefern, liefern, liefern.»

Pyeongchang, 17. Februar 2018. Nachdem die besten Fahrerinnen der Welt das Ziel erreicht haben, liegt Gut-Behrami im Olympia-Super-G auf dem Bronze-Platz. Doch dann startet mit der Nummer 26 noch die Tschechin Ester Ledecka. Die aktuelle Snowboard-Weltmeisterin fährt völlig überraschend zu Gold und stösst damit Gut-Behrami noch vom Podest. Ihr fehlen nur zwölf Hundertstelsekunden zum lang ersehnten Olympiasieg und gar nur ein Hundertstel zu einer Medaille. Während Gut im Zielraum weint, brechen die allermeisten Schweizer Journalisten mehr oder weniger offen in Jubel aus. 

Da der Ski-Zirkus überschaubar ist, kann man davon ausgehen, dass Gut-Behrami damals die Schadenfreude der Journalisten mitbekommen oder zumindest später davon erfahren hat. Aber auch sie trägt eine Mitschuld an der komplizierten Beziehung zwischen ihr und den Medien. Als sie mal niesen musste und gefragt wurde, ob sie krank sei, antwortete sie: «Nein, das ist nur meine Journalisten-Allergie.» Ob das nur ein Spässchen oder doch ernst gemeint war, weiss nur sie.

Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir alle Gut-Behrami nicht verstehen können oder ob wir sie nicht verstehen wollen. Ist uns Bünzli-Schweizern eine Skirennfahrerin wie Michelle Gisin einfach lieber, die auch als Achtplatzierte freundlich lächelt und höflich ins Publikum winkt, als eine Lara Gut-Behrami, die sich als Zweitplatzierte darüber ärgert, nicht gewonnen zu haben? Was wir dabei vergessen: Möglicherweise hat genau wegen dieses eigentlich sympathischen Charakterzugs Gisin erst ein Weltcuprennen gewonnen, Gut-Behrami aber schon deren 45.

Die Zweite ist die erste Verliererin

Vielleicht sollten wir einfach akzeptieren, dass Gut-Behrami dem Erfolg alles unterordnet. Ohne Rücksicht auf Verluste. Dass sie zum Beispiel deshalb Jahr für Jahr bei den Sports Awards im Gegensatz zum Grossteil der anderen Nominierten nicht im Studio sitzt, weil das ihr nichts bringt und sie lieber Rücksicht auf ihre Kräfte nimmt. Egal, wie das beim Publikum da draussen ankommt.

Solch ein Verhalten ist nicht arrogant, sondern das einer selbstbewussten, ehrgeizigen Sportlerin, die genau weiss, was ihr guttut und was eben nicht. Und die genau weiss, dass im Spitzensport die Zweitplatzierte die erste Verliererin ist.

Méribel, Februar 2023. Zum ersten Mal seit vier Jahren verpasst Gut-Behrami an einem Grossanlass mal wieder eine Medaille. Als sie von einem Journalisten des Tessiner Fernsehens nach ihren verpfuschten Rennen befragt wird, antwortet sie: «Was soll ich reden? Es waren einfach zwei Scheiss-Wochen.» 

Da war sie wieder, die ehrliche und authentische Gut-Behrami. Warum etwas schönreden, das sich aus ihrer subjektiven Sicht nicht schönreden lässt?

32 Jahre alt ist mittlerweile Lara Gut-Behrami. Das Ende ihrer grossartigen Karriere ist absehbar. Noch immer schweigt sie lieber, als mit Journalisten ausführlich zu reden. Noch immer hält sie im Unterschied zu allen anderen Fahrerinnen bei Gesprächen bewusst einen halben Meter mehr Abstand zu den Medienvertretern. Noch immer hat sie als Einzige überhaupt ihrem Journalisten-Gegenüber noch nie selber eine Frage gestellt, sei es auch nur, wie es ihm oder ihr gehe oder wie die Anreise gewesen sei.

Taucht sie bald komplett ab?

Doch wenn Gut-Behrami derzeit den Mund aufmacht, sollte man genau hinhören, denn hier spricht mittlerweile eine reflektierte Sportlerin und Frau. «Ich versuche, alles in einem anderen Licht zu sehen. Mich nicht nur auf das Resultat zu fokussieren, sondern darauf, dass meine Familie und ich etwas Unglaubliches gemeinsam gemacht haben.»

Noch immer vollbringt sie regelmässig «Unglaubliches», so auch in dieser Saison. Ihr zweiter Sieg im Gesamtweltcup wäre die Krönung ihrer Karriere und würde sie endgültig zur Ski-Legende machen. Geniessen wir deshalb die Zeit, die wir noch mit Gut-Behrami verbringen dürfen, denn es ist wohl gut möglich, dass sie nach dem Ende ihrer Karriere komplett abtauchen und ein Leben abseits der Öffentlichkeit führen wird. Mensch Lara, eigentlich schade …

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