Lara Gut (23) katapultiert sich aus dem Starthaus von St. Moritz. Unten im Zielraum steht ihre Mama Gabriella (54) und zittert. 54 Hundertstel liegt Lara bei der ersten Zwischenzeit hinter der bis dahin überraschend führenden Ungarin Edit Miklos. Dann startet unser blonder Blitz seine Aufholjagd. Gabriella kann kaum hinschauen. Lara wird immer schneller, im Ziel liegt sie sieben Zehntel vorn. Ein erstes Aufatmen.
Doch das Zittern geht weiter. Ein tückischer Wind bläst über die Corviglia. Manche verbremst es, andere sind unerwartet schnell. Laras Freundin Anna Fenninger (25) liegt lange vorne, im Ziel aber leuchtet die 2 auf. Die letzte Topfahrerin, Lindsey Vonn, scheint auf Siegkurs, hängt aber an einem Tor an, fällt auf Platz 23 zurück.
Gabriella hat Freudentränen in den Augen, sagt zu SonntagsBlick: «Es ist einfach fantastisch, wirklich fantastisch.» Sie ist überwältigt, Lara meint später cool: «Meine Mama ist immer so nervös. Ich bin bloss froh, dass ich das jeweils nicht mitkriege. Aber so sind wohl alle Mütter. Wenn ich mal Kinder habe, werde ich vermutlich genau gleich sein. Ich bin jetzt schon nervös, wenn ich meinem Bruder Jan zuschaue.»
Nervös war sie kaum, doch gehörig unter Druck. Seit dem 7. Dezember und ihrem Sieg im Super-G von Lake Louise wartete Lara auf einen Podestplatz, ihre Resultate waren durchzogen und deutlich hinter den hohen Erwartungen nach ihrer starken letzten Saison (7 Siege). Zwar behauptete sie, sie sei wegen der ausbleibenden Top-Resultate nicht verunsichert, aber ihrem Selbstvertrauen waren die letzten Rennen bestimmt nicht zuträglich.
Gabriella: «Lara ist keine Maschine. Und man darf nicht vergessen, dass sie erst 23 Jahre alt ist. Sie ist zwar schon etliche Jahre im Weltcup, aber immer noch jung. Noch ist sie nicht ganz so stabil wie ihre Konkurrentinnen, die 28 oder 30 Jahre alt sind.»
Eine eindeutige Anspielung auf Lindsey Vonn (30), die Speed-Queen, die beste Fahrerin aller Zeiten (63 Weltcupsiege). Am Ende ihres 24. Lebensjahrs hatte Vonn 13 Siege und 18 Podestplätze zu Buche stehen. Lara liegt derzeit bei 12 Siegen und 8 Podestplätzen. Bis Ende Saison kann sie Vonn in diesem Vergleich wenigstens in den Siegen gar überholen.
Der jetzige Sieg kommt zu einem perfekten Zeitpunkt. Schon am Montag fliegt Lara in die USA. Am Dienstag in einer Woche startet sie bei der WM in Beaver Creek zu ihrem ersten Rennen (Super-G).
Gabriella sagt: «Lara freut sich, sie hat letztes Jahr Abfahrt und Super-G in Beaver Creek gewonnen.» Da war aber eine gewisse Lindsey Vonn nicht am Start. Die Amerikanerin dachte, dass dies ein Nachteil sei. Doch unterdessen konnte sie mehrere Tage auf der WM-Strecke trainieren. Vonn: «Das wird eine grosse Herausforderung. Der Hang ist sehr technisch und anspruchsvoll. Ähnlich wie St. Anton und ich liebe St. Anton.»
Als SonntagsBlick nachhakt und fragt, wer ihr den Sieg streitig machen könnte, sagt sie wie aus der Pistole geschossen: «Lara! Sie ist die technisch stärkste Speedfahrerin. Sicher werden auch Anna Fenninger und Tina Maze mitmischen, aber Lara hat zweimal gewonnen. Das ist ein grosser Vorteil. Vermutlich wird niemand mit so viel Selbstvertrauen zur WM starten wie sie.»
Lara lässt sich nicht in die Favoritenrolle drängen. Nach ihrem Abfahrtssieg in St. Moritz sagt sie: «Es ist cool, dass ich hier gewinnen konnte. Aber jeder Tag ist ein neuer Tag. Ich kann nicht neunzig Prozent fahren und gewinnen.»
Fakt aber ist, dass sie mit dem Sieg im Heimrennen viel Selbstvertrauen tankt. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Mama Gabriella: «Das Resultat war für das ganze Team wichtig (a.d.R. Fabienne Suter wird 5., Nadja Jnglin-Kamer 6.), sicher auch für Lara. Gerade nach dieser Verletzung von Dominique Gisin. Denn damit sind die Erwartungen an Lara automatisch gestiegen, der Druck lastet auf ihren Schultern.»
Es ist keine neue Konstellation für die schnelle Tessinerin. Frauen-Cheftrainer Hans Flatscher ist überzeugt, dass Lara «mit dieser Situation umgehen kann». Denn: «Wir haben wenige Teamstützen, das ist nichts Neues für sie. Wenn Dominique nun ausfallen sollte, wird das Lara nicht gross beeinflussen.»
Mit diesem Sieg wird ihr sowieso alles leichter von der Hand gehen. Gerade weil er ihr hier in St. Moritz gelang. Hier, wo sie vor sieben Jahren erstmals aufs Podest stürzte. Hier, wo sie vor etwas mehr als sechs Jahren erstmals gewann – und seither stets am Podest vorbeifuhr. Lara und St. Moritz, das passt wieder. Gerade rechtzeitig vor der WM. Auch da wird ihre Mama übrigens wieder mitzittern.