Während Marco Odermatt um 11.44 Uhr mit der Nummer 7 zu seinem zweiten Streifzug innerhalb von 24 Stunden ansetzt, stehen im Zielraum die beiden Hauptdarsteller der Olympia-Abfahrt 1976 nebeneinander in der sogenannten Coaching-Zone – Österreichs Abfahrtskaiser Franz Klammer und Blick-Kolumnist Bernhard Russi.
Als Odermatt im Ziel mit einem Vorsprung von 1,3 Sekunden auf den Amerikaner Ryan Cochran-Siegle abschwingt, ballt Russi triumphierend die Faust und bietet seinem 70-jährigen Spezi Klammer eine Wette an. «Odermatt wird dieses Rennen mit einem Vorsprung von einer Sekunde gewinnen! Wie viel setzt du dagegen?» Der Olympiasieger von 1976 erklärt diese Wette mit dem Olympiasieger von Sapporo 1972 für sinnlos. «Bernhard, das ist keine Risikoprognose von dir. In diesem Fall denke ich genau gleich wie du!»
Es dauert knapp zwei Minuten, bis sich die einträchtige Prognose der beiden Altmeister als komplett falsch erweist. Frankreichs Speed-Sensation Cyprien Sarrazin pulverisiert die Mega-Vorlage des Superstars aus dem Kanton Nidwalden um neun Zehntel und feiert seinen zweiten Hahnenkamm-Sieg innerhalb 24 Stunden!
«Ein richtig cooler Siech»
Zu den ersten Gratulanten gehört Luc Alphand, der 1995 als bislang letzter Franzose das Double auf der berüchtigtsten Abfahrt der Welt geschafft hat. Im Gesicht von Odermatt ist Enttäuschung erkennbar. Ein paar Minuten später kann der zweifache Gesamtweltcupsieger aber auch dem zweiten Rang viel Positives abgewinnen. «Ich muss sehr zufrieden sein mit dieser Platzierung, es war erneut ein super Rennen.»
Dann stimmt der Nidwaldner die ganz grosse Lobeshymne auf Sarrazin an: «Klar, ich habe im oberen Abschnitt einen Fehler gemacht, mit einer perfekten Fahrt wäre ich vielleicht sechs Zehntel schneller gewesen. Aber das hätte immer noch nicht gereicht, um Cyprien zu schlagen. Was er derzeit zeigt, ist sensationell. Er ist ein richtig cooler Siech, der richtig viel riskiert. Genau das, was die Leute sehen wollen.»
Das Bett musste unter Sarrazin-Triumph leiden
Odermatt lässt durchblicken, dass er neben der Piste schon viel Spass gehabt hat mit dem 29-Jährigen aus dem Südosten der «Grande Nation»: «Ich war im letzten Sommer in Chile erstmals mit Cyprien im Ausgang, letzte Woche haben wir uns an einer Party in Wengen getroffen. Und ich kann sagen, dass Cyprien auch im Feiern sehr gut mithalten kann.»
Die Bestätigung dafür folgt sogleich: Bei der Siegerehrung in Kitzbühel gesteht Sarrazin dem Publikum: «Nach dem Abfahrtssieg ging ich mit dem ganzen Team aufs Hotelzimmer zum Feiern. Dabei ist leider ein Bett zerstört worden.»
Mit Sarrazins Entwicklung hat auch Feuz nicht gerechnet
Vor dieser Saison hatte Sarrazin noch selten Grund zum Feiern. Nachdem er 2016 völlig unerwartet im Final des Parallel-Riesens in Alta Badia Carlo Janka besiegt hat und drei Jahre später am selben Ort Zweiter im Riesenslalom wurde, ist der Kamikaze in erster Linie mit einer enorm hohen Ausfallquote aufgefallen. Und obwohl der einstige Riesenslalom-Spezialist vor 13 Monaten in Gröden als Sechster seine erste Top-10-Platzierung in der Abfahrt realisierte, gibt ein Top-Experte wie Beat Feuz zu, «dass ich Sarrazin vor diesem Winter nicht wirklich auf der Rechnung hatte».
Doch nach seinem vierten Saisonsieg liegt der Mann, der früher auch mit dem Mountainbike Downhill-Rennen bestritten hat, in der Abfahrtsgesamtwertung bei noch vier verbleibenden Rennen lediglich sechs Punkte hinter Odermatt. Im Gesamtweltcup liegt Sarrazin ebenfalls an zweiter Stelle (496 Punkte hinter Odermatt). Viele Marketing-Experten sind davon überzeugt, dass sich die Erfolge des Franzosen positiv auf das internationale Ansehen des alpinen Skisports auswirken. Sieht das auch Marco Odermatt so? «Definitiv. Aber aus meiner Sichtweise hat Sarrazin jetzt langsam, aber sicher genug gewonnen.»