Das Lazarett im Ski-Weltcup wächst und wächst. Es gibt kaum ein Wochenende, bei dem sich nicht ein Skirennfahrer schwer verletzt, meistens am Knie. Aktuell sind es von Aline Danioth (Sz) über Dominik Paris (It) bis Hannes Reichelt (Ö) etwa 30 Männer und Frauen mit Weltcup-Status, die nicht mittun können. Zuletzt erwischte es Elisabeth Reisinger (23, Ö) in Crans-Montana, Kreuzbandriss. Die vielen Verletzungen sind keine neues Phänomen. «Das gehört halt dazu», heisst es oft. Doch es gibt auch viele, die sich sorgen und Lösungen wollen.
Material ist Körper voraus
Sicher ist: Die Zauberformel für weniger Verletzungen gibt es nicht. «Wir kommen gerade an einen Punkt, an dem das Material den Körper allmählich überholt», sagt Marco Büchel in der «Süddeutschen Zeitung».
Der Ex-Skirennfahrer aus Liechtenstein meint: «Früher gab ein Ski noch nach und rutschte weg. Heute läuft er wie auf der Eisenbahnschiene in eine Richtung, und dein Körper geht in eine andere. Da ist das Kreuzband nun mal die Sollbruchstelle», so Büchel. Die Athleten können noch so fit sein – Bänder, Sehnen und Knochen lassen sich nicht stählen.
Müssen Kurse neu gestaltet werden?
Beni Matti, Rennsportleiter bei Stöckli, nennt den übervollen Kalender als mögliche Ursache von Verletzungen. «Die physische und mentale Müdigkeit führt zu Fehler», sagt er.
Gleichzeitig sei die unterschiedliche Schneebeschaffenheit Gift für den Körper. «Vor allem auf Speed-Strecken wechselt es – manchmal ist die Unterlage eisig, dann sulzig, dann aggressiv.» Ein Set-up für alles lässt sich nicht finden. Passt sich der Fahrer auf der Strecke nicht ständig an die wechselnden Verhältnisse an, droht der Flug ins Fangnetz.
In Österreich arbeitet man derzeit an einem Katalog, wie die Kurse künftig neu gestaltet und gesteckt werden müssten, damit weniger aggressives Material verwendet wird. «Neue Reglementierungen von Taillierungen oder Standhöhen bringen nichts – dann wird woanders kompensiert», sagt Sportdirektor Toni Giger.
Experte sieht Problem bei Bindung
Einer sieht die Situation ganz anders. Sein Name: Stefan Freudiger. Der Geschäftsführer des Ingenieurbüros Flugwesen und Biomechanik (IFB) ist ein ausgewiesener Experte, wenn es um Material und die Kräfte geht, die im Sport auf den Körper einwirken. Auch die Ärzte der Ski-Stars konsultieren ihn zum Thema. Freudiger sagt klipp und klar: «Entscheidend ist die Ski-Bindung. Sie ist heute rückständig und für den Skirennsport nicht geeignet.»
Freudiger spricht die Beinverletzungen an – die grosse Mehrheit aller Verletzungen. «Das grosse Problem ist, dass die Bindung heute nicht zwischen harmlosen fahr- und verletzungsträchtigen Sturzbelastungen unterscheiden.» Genau darum würden sie bei Rennfahrern so hart eingestellt. «Ein Athlet sagte mir mal, dass er lieber ein gerissenes Kreuzband in Kauf nehme, weil die Bindung nicht geöffnet habe, als dass er mit über 100 km/h ins Netz fliege, weil die Bindung zum Schutz des Kreuzbandes öffnete.»
«Wird keine Revolution geben»
Dieser Zustand ist für Freudiger nicht akzeptabel. Er sagt, dass eine «intelligente» Ski-Bindung durchaus zu erfinden wäre. Aber: Dafür braucht es Geld und Zeit. «Aber niemand will investieren. Es ist eine Katastrophe», so Freudiger. Und genau darum brauche es eine radikale Massnahme.
«Die Rennfahrer sollten in den Streik treten. Nur dann würde die FIS ihr Feigenblatt ablegen.» Es sei ethisch nicht zu verantworten, «dass junge Menschen in einen Wettkampf eingeladen und dann mit einer Verletzung fürs Leben wieder nach hause geschickt werden.»
Stöckli-Rennsportleiter Matti glaubt nicht an eine «intelligente» Bindung. «Verbesserungen sind immer möglich. Aber eine Revolution wird es nicht geben. Klar, wir müssen versuchen, die Athleten immer besser zu schützen. Aber jeder, der sich aus dem Starthaus wuchtet, weiss, was ihn erwartet. Er nimmt das Risiko in Kauf.»