Die Riesenslalom-Serie von Marco Odermatt wird immer gigantischer. Sechs Weltcuprennen wurden in diesem Winter in der elementaren Alpin-Disziplin ausgetragen, sechsmal hat der Weltmeister und Olympiasieger vom Vierwaldstättersee triumphiert. Saisonübergreifend hat Odermatt neun Riesenslaloms in Folge gewonnen. Damit fehlen ihm noch fünf Siege auf die Rekordserie von Ingemar Stenmark (Sd, 67). Insider sind sich einig: In diesem Winter kann sich Odermatt im Riesen nur selber schlagen. Fachleute erkennen aber sechs U25-Talente, die den Buochser ab nächster Saison ernsthaft herausfordern könnten.
Alexander Steen Olsen
Im Slalom hat der 22-jährige Norweger bereits im letzten Winter in Palisades Tahoe seinen ersten Triumph im Weltcup gefeiert. Nun hat Steen Olsen in Bansko als Zweiter hinter Odermatt sein bestes Riesenslalom-Ergebnis realisiert (neun Zehntel Rückstand). Was fehlt dem Technikspezialisten aus der Region Oslo zum ganz grossen Coup? «Er besitzt noch nicht für sämtliche Bedingungen das passende Set-up, und manchmal steht Alexander noch der Kopf im Weg», glaubt Deutschlands Ski-Papst Felix Neureuther (39). «Alexander benötigt auch noch einen technischen Feinschliff», ergänzt der Österreicher Thomas Sykora (55), der in den 90er-Jahren mit neun Weltcupsiegen im Slalom zu den herausragenden Technikern gehörte. «Ich zweifle aber nicht daran, dass Alexander diesen Feinschliff erhalten wird. Und dann könnte der selbst für Odermatt richtig gefährlich werden.»
Filippo Della Vite
Der Italiener hat bei der vorletzten Junioren-WM im Riesenslalom hinter Steen-Olsen die Silbermedaille gewonnen. Im Weltcup hat der 22-Jährige aus Bergamo mit vier Platzierungen in den Top 10 sein Talent unter Beweis gestellt. «Wenn ich Trainer wäre, würde mich die Zusammenarbeit mit Filippo besonders reizen», verrät Neureuther. «Della Vite ist für mich auch deshalb ein hochinteressanter Rennfahrer, weil er nicht wie aus der Schablone fährt. Er bringt Eigenheiten mit, die man nicht lernen kann. Im Moment ist er für mich noch zu wenig Profi. Aber aus diesem Rohdiamanten kann man ganz sicher viel herausholen.» Der Trainer, der Della Vite zu einem ernsthaften Odi-Widersacher modellieren soll, ist Abfahrts-Legende Peter Fill (41), der 2016 vor Beat Feuz und Carlo Janka auf der «Streif» in Kitzbühel triumphierte.
Leo Anguenot
Bis zu seinem 24. Lebensjahr hat der Franzose als Alpiner wenig überzeugende Leistungen abgeliefert, deshalb hat er bei den ersten Weltcuprennen dieses Winters sehr hohe Startnummern getragen. Nachdem der ehemalige Junioren-Europameister im Wasserski in Val-d’Isère mit der 60 auf den 21. und in Alta Badia mit der 62 auf den 20. Rang gefahren war, durfte er in Bansko mit der 29 starten. Resultat: Rang 15. Und Thomas Sykora ist überzeugt, dass Anguenot den Sprung nach ganz vorne schaffen kann. Begründung: «Leo steht besonders neutral auf dem Ski und besticht mit einer sehr starken Vorwärtsbewegung.» Anders ausgedrückt: Anguenot könnte sich im Riesenslalom ähnlich stark entwickeln wie sein Landsmann Cyprien Sarrazin (29) in den Speed-Disziplinen.
Sandro Zurbrügg
Der gelernte Automechaniker aus Frutigen BE hat im Dezember etwas geschafft, was nicht einmal Superstar Odermatt gepackt hat: Zurbrügg hat sich in Val-d’Isère auf der ultraselektiven «Face de Bellevarde» bei seiner Weltcup-Premiere als 17. in den Punkterängen klassiert. Und das mit Startnummer 69. In Schladming hat der 21-Jährige als 24. erneut gepunktet. «Je anspruchsvoller eine Piste ist, umso besser fährt Sandro. Seine Technik ist wirklich sehr gut», schwärmt Swiss-Ski-Alpinchef Hans Flatscher. Beim Riesenslalom in Bulgarien hat der Berner Oberländer den zweiten Lauf um 32 Hundertstel verpasst.
Atle Lie McGrath
Weil der Sohn von Ex-Weltklasse-Slalom-Fahrer Felix McGrath bereits seit fünf Jahren im Weltcup eingesetzt wird, vergessen viele, dass der Norweger im April erst 24 wird. Und obwohl er sich vor elf Monaten das Kreuzband am linken Knie gerissen hat, hat er in der laufenden Saison bereits wieder den Sprung aufs Slalom-Podest geschafft (Zweiter in Adelboden und Wengen). Im Riesenslalom war er 6. in Alta Badia und 7. am Chuenisbärgli. Die Experten sind sich sicher, dass McGrath im nächsten Winter nach einer verletzungsfreien Saisonvorbereitung noch viel stärker sein wird.
Lucas Braathen
Kurz vor dem Saisonauftakt in Sölden hat der letztjährige Slalom-Gesamtweltcupsieger völlig überraschend mit 23 Jahren aufgrund von Differenzen mit dem norwegischen Verband seinen Rücktritt vom Skirennsport erklärt. Doch derzeit deutet vieles darauf hin, dass der Norweger mit brasilianischen Wurzeln im kommenden Winter sein Weltcup-Comeback geben wird. Im Dezember hat er mit Griechenlands Vize-Weltmeister AJ Ginnis das Slalom-Training aufgenommen. «In meinen Augen gibt es wirklich nichts mehr, was gegen Braathens Rückkehr in den Ski-Zirkus spricht», sagt Head-Rennchef Rainer Salzgeber. Zur Erinnerung: Braathen hat in Alta Badia 2022 Odermatt die vorletzte «Niederlage» im Riesenslalom zugefügt. Der Letzte, der den dreifachen Schweizer Sportler des Jahres in dieser Disziplin besiegen konnte, war im letzten Februar in Palisades Tahoe Marco Schwarz. Auch der Österreicher wird nach seinem in Bormio erlittenen Kreuzbandriss im nächsten Winter aller Voraussicht die Jagd auf Odermatt wieder aufnehmen.