Der meistens gut gelaunte Franjo von Allmen langt sich am Freitagvormittag entnervt an den Kopf. Grund: Bei der ersten Abfahrt in Kvitfjell verpasste der Weltmeister nach einem Beinahe-Crash beim ersten Sprung als Vierter das Podest um zwei Zehntel. Doch knapp 24 Stunden später schlägt der Berner Oberländer auf der Olympiapiste von 1994 zurück. Der 23-Jährige verweist seine Teamkollegen Marco Odermatt und Stefan Rogentin auf die Plätze zwei und drei und feiert damit seinen dritten Weltcupsieg.
In der 58-jährigen Historie des Alpinen Weltcups geschieht es zum neunten Mal, dass drei Schweizer Abfahrer die ersten drei Ränge belegen. Dreimal hat es im Super-G, zweimal in der Kombination und einmal im Riesenslalom einen totalen Swiss-Ski-Erfolg gegeben. Aber was hat dieses historische Ergebnis für eine Auswirkung auf den aktuellen Kugel-Kampf? In der Abfahrts-Gesamtwertung hat von Allmen mit seinem jüngsten Erfolg eine kleine Chance auf die kleine Kugel gewahrt. Vor dem Finale in Sun Valley liegt er 83 Punkte hinter Odermatt. Das bedeutet im Klartext: Wenn von Allmen auch die letzte Abfahrt gewinnt, benötigt Odermatt zur Titelverteidigung einen 14. Rang.
Sicher ist, dass der Superstar vom Vierwaldstättersee am 27. März zum vierten Mal in Serie die grosse Kristallkugel in Empfang nehmen darf. Weder Henrik Kristoffersen (fährt nur noch vier Rennen) noch von Allmen oder Meillard (beide über 700 Punkte zurück) können Odermatt in den verbleibenden sieben Rennen in der rein sportlich wertvollsten Wertung einholen. Was viele längst vergessen haben: Odermatt ist denkbar unglücklich in diesen Winter gestartet.
Blick zeigt Odermatts wichtigste Stationen zu seinem vierten Gesamtweltcupsieg:
Oktober 2024
Beim viel diskutierten Comeback des achtfachen Gesamtweltcupsiegers Marcel Hirscher (35, Rang 23) will der vierfache Schweizer Sportler des Jahres beim Weltcup-Auftakt in Sölden ein besonderes Zeichen setzen. Odermatt packt mit der Nummer 1 im Startabschnitt des Riesenslaloms geniale Schwünge aus, scheidet dann aber aus.
Dezember 2024
Nach dem zweiten Rang in der Abfahrt und dem Sieg im Super-G fällt der Buochser in Beaver Creek im Riesenslalom erneut aus. Experten wie Deutschlands Ex-Slalom-Weltmeister Frank Wörndl (65) beginnen, an Odermatt zu zweifeln: «Marco ist mental nicht mehr so stark wie in den letzten Jahren.»
Dezember 2024
Während sich Henrik Kristoffersen im Ziel des Riesenslaloms in Val-d’Isère über die «unfairen Bedingungen» beschwert, demonstriert Marco Odermatt in eindrücklichster Manier, dass er rein gar nichts von seiner grossen Klasse eingebüsst hat – obwohl er als Halbzeit-Leader im zweiten Lauf die schlechtesten Bedingungen von allen vorfindet, fährt der Riesen-Olympiasieger auf der Face de Bellevarde seinen zweiten Saisonsieg ein.
Dezember 2024
Am Tag nach seinem ersten Abfahrts-Sieg auf der Grödner Saslong plädiert Odermatt in Alta Badia während der Besichtigung wie viele andere Rennfahrer für eine Absage des Riesenslaloms. Begründung: «Nach rund 20 Toren bricht der Schnee aus der Piste, dadurch bilden sich gefährliche Nester!» Die Jury entscheidet sich dennoch für einen Rennstart. Das Endergebnis: Odermatt gewinnt mit über acht Zehnteln Vorsprung.
Dezember 2024
48 Stunden, nachdem sein grösster Abfahrts-Gegenspieler Cyprien Sarrazin bei einem Trainings-Crash auf der Stelvio eine Hirnblutung erleidet, sorgt Odermatt beim Bormio Super-G für einen heftigen Schockmoment – nach einem Verschneider in der Traverse kann der Weltmeister einen bösen Sturz dank eines überragenden Reflexes verhindern. Weil sich bei diesem Manöver der Airbag öffnet, kann der Ausnahmeathlet das Rennen nicht in der optimalen Position fortsetzen. Dennoch rettet er mit dem fünften Schlussrang 45 Weltcuppunkte.
Januar 2025
Henrik Kristoffersen bezeichnet den zweiten Lauf des Riesenslaloms in Adelboden im Whatsapp-Dialog mit dem FIS-Renndirektor als «Schande für den Skisport», weil er aufgrund des immer schlechter werdenden Lichts am Chuenisbärgli viel zu schnell war. Obwohl bei Odermatts Start das Licht schlechter ist als beim Ausfall des cholerischen Wikingers, feiert er vor Loïc Meillard den vierten Adelboden-Sieg in Serie.
Januar 2025
Nach der Enttäuschung im Wengen-Super-G (Platz 7) gewinnt Odermatt wie im Vorjahr die Lauberhornabfahrt (37 Hundertstel vor Franjo von Allmen).
Januar 2025
Das Hahnenkamm-Wochenende beginnt für Odermatt mit 100 Punkten im Super-G perfekt. Am Tag danach liefert der beste Skirennfahrer der Gegenwart ein strategisches Meisterstück ab. Weil er bereits bei der Besichtigung spürt, dass er die nötige Körperspannung nicht aufbringen kann – obwohl der Sieg bei der Streif-Abfahrt seinem grössten Saisonziel gleichkommt –, verzichtet der 1,83-Meter-Mann auf eine Harakiri-Fahrt, um WM und Gesamtweltcupsieg nicht zu gefährden. Mit der nötigen Sicherheitsmarge fährt er auf Rang 6, der ihm vierzig weitere, sehr wertvolle Punkte einbringt.
Februar 2025
Bei den ersten Weltcuprennen nach der WM in Saalbach-Hinterglemm (Gold im Super-G) spricht in Crans-Montana anfänglich nicht viel für ein erfolgreiches Odermatt-Wochenende. «Das ist die einfachste Strecke, auf der ich im Weltcup jemals gefahren bin», sagt der Edeltechniker nach dem 36. Platz im ersten Abfahrtstraining. Doch in den Rennen liefert Marco zweimal grandios ab – nach dem zweiten Rang hinter von Allmen in der Abfahrt verbucht er im Super-G den achten Saisonsieg. Auf der Tribüne klatscht Pirmin Zurbriggen (62), der bis dahin als einziger Schweizer viermal den Gesamtweltcup gewonnen hat, Beifall. Jetzt hat Marco Odermatt das Idol seines Vaters Walti auch in dieser Kategorie eingeholt.