In seinem Elternhaus in der Pitztaler Gemeinde Jerzens ist Gernot Reinstadler allgegenwärtig. Im Eingangsbereich erinnert ein Foto an seine Siegesfahrt bei den Tiroler Schülermeisterschaften 1985. In der Wohnstube hat Mutter Traudl neben den Pokalen ein Bild aufgehängt, das ihren Gernot rund 24 Stunden vor dem tödlichen Unfall auf der Anfahrt zum Hundschopf zeigt.
Die 79-Jährige, die als Traudl Eder bis zu ihrem Rücktritt 1966 bei einigen internationalen Skirennen Podestplätze einfahren konnte, öffnet das Stubenfenster und erzählt von einem Schockmoment in den späten 70er-Jahren.
«Der Gernot war ein richtig wildes Kind. Und als er sechs oder sieben Jahre alt war, musste ich zuschauen, wie er vor unserem Haus mit dem Fahrrad heftig stürzte und über die Böschung flog. Ich hatte panische Angst, dass er nicht mehr aufsteht. Aber dann ist er mit dem Radl zurückgekehrt, wie wenn nichts passiert wäre.»
Der Draufgänger
Seinem Ruf als kompromissloser Draufgänger wird der 21-jährige Gernot auch in den Morgenstunden des 18. Januar 1991 in Wengen gerecht. Erwin Resch (59, WM-Bronzemedaillengewinner 1982) gehört damals zu den Routiniers in Österreichs Abfahrt-Team und teilt sich regelmässig mit Reinstadler das Zimmer.
Resch macht sich vor dem Abschlusstraining zur Lauberhornabfahrt Sorgen. «Gernot hat bereits beim Einfahren brutal viel riskiert, da habe ich mir überlegt, ob ich ihm als erfahrener Kollege raten soll, einen Gang zurückzuschalten», erinnert sich der Salzburger. «Letztlich habe ich den Gernot aber machen lassen, weil ich zum Schluss gekommen bin, dass man einen jungen Rennfahrer nicht einbremsen sollte.»
Dementsprechend drückt Reinstadler am Nachmittag im Qualifikationstraining, bei dem nur die Top-30 ein Ticket fürs Rennen erhalten, Vollgas. Im Ziel-S ereignet sich dann die schrecklichste Tragödie der Lauberhorn-Geschichte. Gernot verkantet, fliegt ins Netz, wo sich eine Skispitze verfängt – und wird regelrecht in zwei Teile zerrissen.
Schicksalshafte Begegnung
Während ihr Bub mit einer Beckenspaltung und schweren inneren Verletzungen mit dem Helikopter ins Spital nach Interlaken geflogen wird, fährt Traudl Reinstadler im Pitztal selber Ski. In der Gondel begegnet sie zufälligerweise einer Frau, die im Jahr zuvor ihren Sohn nach einem tödlichen Unfall in der Schweiz verloren hat.
«Ich habe es nicht gewagt, die Frau auf diesen Schicksalsschlag anzusprechen», erzählt Traudl Reinstadler. «Aber ich habe mir gedacht: Mein Gott, wie muss diese Frau leiden!»
Kollektives Aufatmen
Kurz nach der Rückkehr von der Piste beginnt ihre Leidenszeit durch einen Telefonanruf aus Wengen: «Der Abfahrtstrainer hat mir mitgeteilt, dass Gernot gestürzt und ins Spital geflogen worden sei. Genauere Informationen konnte er mir aber nicht durchgeben.»
Eine knappe Stunde später macht Traudl ein Anruf ihres ehemaligen Rennfahrer-Kollegen Karl Schranz sogar Hoffnung: «Der Karl war selber in Wengen, und er war sich ziemlich sicher, dass Gernot durchkommen werde. Mein Mann und ich stellten uns deshalb bereits darauf ein, dass wir am nächsten Tag nach Interlaken fahren, um Gernot zu besuchen.»
Auch im Medienzentrum in Wengen wird um 19 Uhr kollektiv aufgeatmet. Der Pressechef vermeldet, dass Österreichs Abfahrts-Hoffnung ausser Lebensgefahr sei. Mama und Papa Reinstadler legen sich gegen 21 Uhr ins Bett, bis sie um 1 Uhr nachts aus dem Schlaf gerissen werden.
Telefon ändert alles
Der Telefonanruf von Abfahrtstrainer Robert Trenkwalder stellt das Leben der Familie Reinstadler auf den Kopf: «Robert informierte mich, dass Gernot gestorben sei. Seine Worte gingen wie ein Messerstich in mein Herz.»
Das Leiden hält bis heute an. Trotzdem dachten Traudl und ihr Mann Adi nie daran, von den Lauberhorn-Organisatoren Schmerzensgeld zu verlangen. «Ein juristisches Nachspiel hätte den Gernot nicht zurückgebracht. Zudem wussten wir, dass die Wengener nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Zwischen uns, OK-Präsident Viktor Gertsch und seinem Vize Fredy Fuchs ist sogar eine Freundschaft gewachsen.»
Traudl ist mit ihrer Tochter öfter zu den Lauberhornrennen gefahren. «Als ich erstmals an der Unfallstelle stand, wurde mir bewusst, dass Gernots Tod andere junge Leben gerettet hat. Wäre er nicht vom Fangnetz zerrissen worden, hätte sich die Sicherheit bei Abfahrtsrennen nicht so schnell verbessert.»