«Um es gleich vorwegzunehmen: Nein, auch ich bin es mir nicht gewohnt, mit WM-Heldinnen zu sprechen. Dementsprechend angespannt bin ich, als Wendy Holdener und Michelle Gisin zum vereinbarten Frühstück im Hotel Kempinski erscheinen. Doch die Nervosität legt sich rasch, wir kennen uns ja schon von früher.
Ich lasse es mir nicht nehmen, der Gold- und Silbermedaillengewinnerin höchstpersönlich einen Cappucino an den Tisch zu bringen. Denn: Das haben sie sich mehr als nur verdient! Und vielleicht sind sie ja auch noch müde vom vielen Feiern. Oder? ‹Ich war zwar schon um 22:30 in meinem Zimmer, aber es hat noch lange gedauert, bis ich eingeschlafen bin›, sagt Michelle.
Wendy ist ebenfalls müde: ‹Alles war wunderbar. Ich bin dann später am Abend nochmals ins Swiss House gegangen, doch irgendwann wurden mir die unzähligen Selfies zu viel – dann habe auch ich mich zurückgezogen.›
Ich kenne dieses Gefühl genau. Vor allem bei den Heimrennen in Adelboden und Wengen konnte ich mich teilweise kaum noch frei bewegen. Ein Autogramm hier, ein Foto da. Und das pausenlos, immer und immer wieder. Wenigstens musste ich mich früher aber nicht gross mit dem Thema Social Media beschäftigen. Das ist heute ganz anders.
Was Michelle mir erzählt, ist schon krass: ‹Auf Twitter versuche ich seit dem ersten Abend die Meldungen, bei denen ich erwähnt werde, zu liken oder eine Antwort zu geben. Aber ich komme einfach nicht nach, es ist völlig verrückt!› In diesen Momenten bin ich froh, nicht mehr derart im Rampenlicht zu stehen. Denn Twitter, Facebook und Instagram können schon ziemlich anstrengend sein.
Doch nun möchte ich mit Wendy und Michelle ein anderes Thema besprechen. Als ich gestern bei der Siegerehrung gesehen habe, wie sie sich umarmt haben, habe ich an meine Zeit mit Bört zurückgedacht. Ach ja, für die, die es nicht wissen: Ich spreche von Marc Berthod. Er und ich waren, so wie unsere Medaillen-Girls, dicke Kumpels. Das sind aber längst nicht alle Parallelen zwischen uns vieren.
Als Bört und ich bei der WM 2007 in Are (Schweden) Gold und Bronze gewannen, waren wir genau gleich alt wie es Wendy und Michelle heute sind - 23 Jahre. Und: Auch für uns war es damals der grösste Karriere-Erfolg. Genau zehn Jahre ist das jetzt her. ‹Wirklich? So viele Parallelen, das ist ja speziell. Und herzig›, sagt Michelle. Und dann erzählt mir Wendy etwas, das mich wirklich berührt: ‹Ich habe damals eure Zeitungsartikel ausgeschnitten. Wir waren mega Fans von euch beiden.›
Ich muss das Gespräch wieder auf den Sport drehen, merke ich. Denn: sonst werde ich plötzlich noch emotional. Ich will darum von den beiden wissen, was ihr Grosserfolg nun auslösen könnte. Denn: Ich selbst war nach meinem WM-Titel in der Kombination in einem solchen Flow, dass ich später noch Silber im Riesenslalom und Bronze im Teamevent holte.
‹Bei einer Heim-WM so zu starten und zu wissen, dass da noch Rennen folgen werden, ist schon das Beste, was man haben kann. Hätten wir nichts erreicht, würde sich der Druck immer mehr aufbauen›, sagt Wendy. ‹Dann wäre der Frust und die Enttäuschung natürlich jetzt da›, pflichtet ihr Michelle bei. ‹Und das wäre gefährlich. Denn dann würde man unbedingt noch mehr wollen, man könnte sich verkrampfen. Jetzt ist es das Gegenteil: Alles, was noch kommt, ist Bonus. Es ist mega cool – und es kann noch besser werden!›
Nun nimmt mich aber doch noch Wunder, wie die beiden ihre längerfristige Zukunft sehen. Bört und ich waren zwar sehr unterschiedliche Typen, aber genau dadurch haben wir uns perfekt ergänzt. Wir konnten uns sehr gut gegenseitig helfen. Ich habe den Eindruck, dass dies bei ihnen auch der Fall ist.
Liege ich falsch? ‹Nein, das stimmt schon, Dani. Wir sind auch sehr unterschiedlich. Aber genau wie bei euch damals mögen auch wir uns sehr und treiben uns ständig an›, sagt Wendy. Michelle nickt: ‹Wir verbringen nicht jede freie Minute zusammen. Aber ich weiss, dass ich immer auf Wendy zählen kann, wenn etwas ist. Gleichzeitig bin ich immer bereit, sollte sie Hilfe brauchen.›
Ich rate den beiden, dies immer so beizubehalten – denn es gibt kaum etwas Wichtigeres während einer Karriere. Leider hat es bei Bört und mir nicht immer geklappt, weil wir nach unserem Grosserfolg schon bald mit Verletzungen zu kämpfen hatten. Damit trennten sich unsere Wege immer mehr. Doch auch wenn wir heute nicht mehr professionell Skifahren können: Was damals war, verbindet uns für immer, wir sind nach wie vor Kollegen.
Ich könnte noch lange mit Wendy und Michelle weiterreden. Denn wir sprechen die gleiche Sprache, verstehen uns – auch wenn zehn Jahre zwischen uns liegen. Doch nun müssen die Beiden aufbrechen, sie haben zu tun. Das kann ich gut nachvollziehen.
Nach herzlichen Umarmungen wünsche ich ihnen viel Glück für den weiteren WM-Verlauf. Wobei sie das ja fast nicht brauchen. Erstens haben beide Klasse ohne Ende. Und zweitens ist es ist so, wie Michelle sagt: Was jetzt noch kommt, ist Bonus. Eine schönere Ausgangslage gibt es nicht. Macht's gut!»