Bernhard Russi (71) klettert im fortgeschrittenen Alter lieber steile Wände hinauf statt schnell den Berg hinunter zu fahren. Das hat er früher als Weltmeister und Olympiasieger getan. Das Tempo hat mittlerweile an Bedeutung verloren. Dafür ist die Faszination für die Kletterei ungebrochen. Für diesen steten Hochseilakt am Berg, für diese Gratwanderung. «Ja, beim Klettern hängt man hin und wieder in den Seilen und stürzt ab», sagt er.
Schon dreimal ist ihm das passiert, jedes Mal ist es glimpflich ausgegangen. Und am Ende stand er doch ganz oben. Aber im Sport wie im Privatleben ist er schon im Seil gehangen. Und musste auch schwere Schicksalsschläge verkraften. Und sich wieder aufrappeln.
«Beim Klettern lernt man auch, dass es mit kleinen Schritten besser geht. Man unterteilt eine scheinbar unüberwindbare Route in kleine Sektoren. Etappenweise ist alles zu meistern, auch wenn die Herausforderung auf den ersten Blick noch so riesig erscheint. Das ist wie im richtigen Leben: Wenn man meint, es gehe nicht mehr weiter, dann macht man zwei, drei ganz kleine Schrittchen. Und plötzlich findet man wieder einen Weg», philosophiert er.
BLICK begleitet die Ikone des Schweizer Sports auf einer Tour in der Schöllenen-Schlucht. Am Seil hängend spricht Russi über seine Quarantäne auf 2000 Meter, über drei geschätzte Weggefährten, die am Coronavirus gestorben sind. Aber auch über seine Begeisterung seiner Heimat im Urserental, die er mit zunehmendem Alter nochmals neu entdeckt und schätzen gelernt hat. Er kennt jeden Berg und jeden Fels und jede Schlucht rundherum.
Und Russi spricht auch davon, ob Corona den Sport verändern wird. Der Ausgangspunkt für die Tour ist die Teufelsbrücke, das Ende ist die Schweizer Fahne hoch über Andermatt. Dazwischen liegt der Diavolo-Klettersteig. Für Russi ein Spaziergang. Für andere eine Herausforderung.
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Bernhard Russi, unter uns fahren die Autos die Schöllenen hinauf und hinunter. Was verbinden Sie für Erinnerungen mit dieser monumentalen Schlucht?
Bernhard Russi: Sehr viele! Es war für mich der Weg hinaus in die grosse Welt. Aber die Schöllenen blieb auch immer die Route heim zu meinen Wurzeln. Gerade wenn man älter wird sucht man ja seine Wurzeln wieder und entdeckt sie neu. Corona hat diese Zeit noch intensiver gemacht.
Aber der Kanton Uri hat ja früh für die Risikogruppe eine Ausgangssperre verhängt.
Am Tag, bevor diese Ausgangssperre verhängt wurde, bin ich mit meiner Frau Mari mit den Tourenski auf unsere Hütte gelaufen. Die liegt auf über 2000 Meter. Wir wollten da einige Tage verbringen. Dann kam die Nachricht meines Sohnes, dass wir das Haus nicht mehr verlassen dürfen. Da wusste ich: Mein Haus wird für die nächsten Wochen diese Hütte in den Bergen sein.
Da kam die Angst vor dem Lagerkoller?
Mitnichten. Es war schon immer ein Traum, einige Wochen da oben zu verbringen. Ich wage es kaum zu sagen, aber die Corona-Zeit war für uns paradiesisch. Im Wissen darum, dass die Hölle gleich um die Ecke ist.
Was haben Sie da oben gemacht?
Morgens um 10 Uhr die erste Skitour bei prächtigsten Bedingungen. Um 13 dann eine Suppe vor der Hütte, dann der Mittagsschlaf. Dann eine kürzere zweite Tour, dann ein Bier vor der Hütte. Und bei Sonnenuntergang bin ich vielfach nochmals auf einen Berg und habe eine kurze Tiefschneeabfahrt genossen. Ich konnte rundherum auf alle Berge schauen im Wissen darum, dass jede Spur von uns ist. Ich weiss, dass ich sehr privilegiert war und schätze das unglaublich. Ich war seit Jahren nie mehr so fit wie heute. Aber es gab natürlich auch schlimme Nachrichten.
Welcher Art?
Natürlich beschäftigt einem das Schicksal anderer Menschen. Ich hatte von Beginn weg grossen Respekt vor diesem Virus. Und ich habe in den letzten Wochen drei mir doch recht nahestehende Menschen verloren. Klar, zwei waren im fortgeschrittenen Alter und hatten Vorerkrankungen. Aber einer war erst 45 Jahre alt, ein sportlicher gesunder Typ. Mir muss keiner mehr erklären, dass dieses Virus eine gewöhnliche Grippe ist.
Aber die Kritik an den Massnahmen des Bundesrates werden immer lauter?
Das kann ich nicht nachvollziehen. Wo waren denn alle diese Kritiker am 15. März? Da hatten sie wohl die Hosen voll bei dieser ungewissen Bedrohung. Im Nachhinein kann jeder schlau daherreden. Die Lage war sehr ernst und für mich haben die verantwortlichen Personen einen guten Job gemacht. Meine Frau ist Schwedin, wir haben ein Haus dort. Aber ob der schwedische Weg der bessere war bezweifle ich. Die Zeit wird es zeigen.
Wenn wir hier hinunterschauen sehen wir auch die Teufelsbrücke. Welche Erinnerungen verbinden sie damit?
Als die neue Teufelsbrücke für den Verkehr eingeweiht wurde, da haben wir mit unserer Schule ein Theater einstudiert. Ich habe bei dieser Vorführung den damaligen Bundesrat Hans-Peter Tschudi gespielt.
Damals gab es ja noch keinen Gotthardtunnel und der ganze Verkehr ging durch Andermatt.
Ja, und das war ja ein Glücksfall für die Gemeinde. Und so habe ich schon mit zwölf Jahren einen Job als Hotel-Portier gehabt.
Mit zwölf Jahren?
Ja. Meine Tante hatte das Hotel Helvetia. Und wir hatten mehr als drei Monate Sommerferien. Da habe ich bei ihr im Hotel als Portier gearbeitet. Und gutes Trinkgeld verdient.
Was mussten Sie dafür tun?
Die Tage waren lang. Um fünf Uhr aufstehen, dann mit den Grosseltern in die Frühmesse als Messdiener, dann ins Hotel und den grossen Parkplatz wischen. Um acht Uhr und auch am Abend musste ich noch zweimal als Messdiener in die Kirche, auch das gab ein wenig Sackgeld. Und zwischendurch habe ich im Hotel gearbeitet. Alle Gäste stellten ja damals ihre Schuhe vor die Zimmer. Und die habe ich alle poliert. Und auf dem Parkplatz habe ich mit dem Hirschleder alle Autoscheiben poliert. Vorzugsweise wenn die Gäste schon kurz vor dem Einsteigen waren. Wegen dem Trinkgeld. Damals habe ich schon gelernt, wie man Geschäfte macht.
Sie sind in der Folge nicht nur ein herausragender Sportler, sondern auch ein guter Geschäftsmann geworden. Jetzt verzichten Sie gegenüber allen Partnern auf einen Teil ihrer Ihnen zustehende Entschädigung und sprechen da vom «Corona-Rabatt».
Ja. Das ist eine Geste und ein kleiner solidarischer Beitrag, den ich in dieser schwierigen Zeit leisten kann.
Sind Sie froh, dass das Lauberhorn gerettet ist?
Ja, natürlich. Aber der Fall zeigt auch etwas die Problematik, wie viele Kräfte da wirken. Grundsätzlich müsste der Weltcup zentral von der FIS gesteuert und vermarktet werden. Aber darüber entscheidet ja der Kongress und darin sitzen die Landesvertreter. Und die werden kaum etwas freiwillig abtreten. Vielleicht schafft Urs Lehmann da eine Straffung und Professionalisierung, sollte er als Präsident der FIS gewählt werden. Er hat da die Dynamik und den Willen, einiges neu anzugehen. Er wäre ein geeigneter Präsident.
Sie waren noch im Februar in China. Dann sind die Weltcuprennen auf ihrer Olympiapiste für die Winterspiele von Peking 2022 abgesagt worden. Wie geht es da weiter?
Geschafft, wir sind am Ziel.
Das ist ja immer wieder ein wunderbarer Moment, auch für sie nach all diesen Gipfeln?
Natürlich! Und wenn ich alleine unterwegs bin, habe ich immer noch eine Startnummer an. Dann bin ich immer noch der Wettkampftyp und weiss genau, wie lange ich gebraucht habe. Ob beim Klettern oder beim Biken. Aber jetzt verrate ich Ihnen ein Trick.
Welchen?
Wir haben ja geschwitzt. Jetzt ziehen wir das T-Shirt aus und kehren es um. Innenseite nach aussen, Vorderseite nach hinten. Dann hat man fast wieder ein trockenes Shirt. Ich habe mal vierzehn Tage die Grenzgipfeltour im Urserental gemacht. Alle Gipfel rundherum, während zwei Wochen. Mit einem einzigen T-Shirt!
Wie lautet eigentlich ihr Lebensmotto für die nächsten Jahre?
Früher habe ich auch immer Pläne gemacht, hatte das schweizerische Sicherheitsdenken, ein sehr strukturiertes Leben. Davon bin ich längst abgekommen. Ich lebe nach dem Lustprinzip und mein Motto lautet schon länger: Ich geniesse nur den Moment und konzentriere mich nur noch auf den heutigen und den morgigen Tag.
Hat sich das mit der Corona-Krise noch verfestigt?
Leicht verändert. Von Heute und Morgen bin ich abgerückt. Mein neues Motto lautet: Heute! Ich bin noch mehr Fatalist. Und grundsätzlich ist ja ein 71-Jähriger immer ein wenig vom Tod bedroht. Ganz allgemein lernen wir ja in dieser Zeit auch wieder, dass wir immer mit einem Restrisiko leben lernen müssen. Es ist gar nicht schlecht, wenn wir die Vollkaskomentalität etwas abstreifen.
Worauf freuen sie sich noch?
Auf vieles! Immer noch ans Limit gehen, immer noch Grenzen ausloten. Das hört nie auf. Aber am meisten freue ich mich jeweils auf meine Enkelkinder. Ich bin ja dreifacher Grossvater. Das ist wunderbar. Wenn die mich anlachen, dann habe ich das Gefühl der Grösste zu sein. Dann kann man alle Pokale und Medaillen im Keller versorgen.