Ausnahmen möglich! Lara Gut-Behrami und Co. dürfen weiterhin oben ohne fahren
Airbag-Obligatorium sorgt für rote Ski-Köpfe

Der Weltskiverband FIS führt ein Airbag-Obligatorium für alle Speed-Rennen im Weltcup ein. Doch die Regelung sorgt für Kontroversen, da Ausnahmen möglich sind. Athleten wie Michelle Gisin und Lara Gut-Behrami äussern Bedenken über die Praxistauglichkeit des Systems.
Publiziert: 13.11.2024 um 17:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2024 um 20:13 Uhr
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Marco Odermatt benutzte den Airbag schon im letzten Winter. Nun ist er obligatorisch. Das können nicht alle verstehen.
Foto: Sven Thomann
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Mathias GermannReporter Sport

Stell dir vor: Du verlierst bei 120 km/h auf einer eisigen Piste die Kontrolle über deine Ski. Würdest du dir da einen Airbag am Oberkörper wünschen? Für den Weltskiverband FIS ist klar: Der Airbag ist nicht nur gut, sondern notwendig. Während die schnittfeste Unterwäsche erst ab kommendem Winter eingeführt wird, verhängt die FIS ab sofort für alle Speed-Rennen im Weltcup ein Airbag-Obligatorium. Generalsekretär Michel Vion: «Für die FIS kommt die Sicherheit der Athleten an erster Stelle. Sie ist nicht verhandelbar.»

Nicht verhandelbar? Genau das darf man angesichts des Zusatzes, welches im Reglement festgeschrieben ist, anzweifeln. Dort heisst es: «Der Nationale Skiverband kann Ausnahmen gewähren, wenn der Airbag einem Athleten nicht passt, sodass der Airbag die Bewegung einschränkt.» 

Dazu muss man wissen: Es gibt im Ski-Zirkus längst nicht nur Airbag-Befürworter. Abfahrt-Stars wie Dominik Paris (32, It), Aleksander Kilde (30, No) und Vincent Kriechmayr (30, Ö) haben längst ihre Bedenken geäussert – sei es wegen der für sie eingeschränkten Beweglichkeit oder aus Angst vor Fehlzündungen. Bei den Männern trugen im letzten Winter geschätzt 60 Prozent den Airbag, bei den Frauen 40 Prozent. 

Wann löst der Airbag bei wem aus?

Allrounderin Michelle Gisin gehörte zu jenen, die bislang auf das Oberkörper-Korsett mit eingebauter Kaltgasflasche (sie muss stets geladen werden) verzichtete. Letztes Jahr sagte sie zu Blick: «Die Diskussion über mehr Schutz ist gut. Aber das System ist noch nicht ausgereift, nicht genügend durchdacht. Ich habe zum Beispiel ganz andere Körpermasse und Hebel als Ana (Joana Hählen, Anm. d. Red.) – ich bin deutlich grösser, sie muskulöser. Und wir fahren ganz anders, ich bin ruhiger unterwegs. Wann soll der Airbag auslösen?» 

Gisin findet, der Vergleich zu den Töffrennen, wo der Airbag seinen Ursprung hat, sei nur sehr bedingt zulässig, weil die Kräfte im Skirennsport ganz anders wirken würden. «Dazu kommt, dass der Airbag bei uns keine Einheit mit dem Helm ist. Das müsste man hinkriegen. Denn der Kopf ist nach den Knien und Beinen der bei Stürzen am zweithäufigsten betroffene Körperteil.»

Auch Gesamtweltcupsiegerin Lara Gut-Behrami (33) verzichtete bislang auf den Airbag, die Tessinerin trug ihn jeweils nur im Training. Sie meinte letzten Winter: «Ob wir schon weit genug sind für ein Obligatorium, ist eine gute Frage.»

Die FIS ist davon überzeugt. Sie lässt gegenüber Blick verlauten, dass mehrere Jahre der Forschung gezeigt hätten, dass das Airbag-System das Risiko schwerer Verletzungen in den Speed-Disziplinen erheblich reduzieren würde. Vion meint: «Wir werden nicht darauf verzichten, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die mit der Ausübung des Schneesports verbundenen Risiken zu minimieren.»

Swiss-Ski: «Nicht restlos überzeugt»

Trotzdem: Nicht nur Athleten, sondern auch Verbände wettern schon länger gegen das Airbag-Obligatorium. Swiss-Ski-Alpin-Direktor Hans Flatscher meint auch heute noch: «Wir sind nicht restlos überzeugt vom Verband. Man kann auch nach zehn Jahren mit vielen Messungen nicht belegen, ob der Airbag in jeder Situation 100 Prozent besser ist.»

Italiens Frauen-Teamchef Gianluca Rulfi äussert sich gegenüber Blick ebenfalls kritisch. Er nennt einen weiteren Aspekt. «Ich halte den Airbag für eine Übertreibung zwischen Kosten und Nutzen. Solange er nicht besser ist, reicht für mich der normale Rückenprotektor.» Derzeit kostet ein Airbag im Weltcup zwischen 500 und 900 Franken – er wird aber immer günstiger.

FIS reagiert: kein Freifahrtschein!

Einig sind sich Flatscher und Rufli bei der Ausnahmeregelung, die die FIS gewährt: Sie finden sie Blödsinn. «Entweder alle oder keiner – sonst ist es kein Obligatorium», sagt Flatscher. Er werde es seinen Fahrern jedenfalls freistellen, wenn sie wünschen, ohne Airbag unterwegs zu sein. Wie das formal ablaufen werde, wisse auch er nicht. «Darüber wurden wir nicht informiert. In Levi will ich einige Antworten dazu erhalten.»

Rulfi kritisiert den möglichen Wettbewerbsnachteil wegen eines möglichen, höheren Luftwiderstandes: «Man gibt einem Athleten die Möglichkeit, den Airbag nicht zu benutzen. Damit hat er einen potenziellen Vorteil gegenüber den anderen.» Daran glaubt Flatscher nicht: «Ein Nachteil ist nicht zu belegen.» Wir erinnern uns: Ski-Dominator Marco Odermatt (27) fuhr bei Speed-Rennen im letzten Winter stets mit Airbag.

Dennoch bleibt die Frage: Kann nun nicht jeder, der will, auf den Airbag verzichten? Vion spricht Klartext: «Wenn es einen sehr klaren und objektiven Grund gibt, warum die Verwendung eines Airbags für einen bestimmten Athleten nicht diese zusätzliche Sicherheit zu bieten scheint, werden wir den Fall bewerten und möglicherweise eine Ausnahmeregelung einführen, die der Athlet auf eigenes Risiko in Anspruch nehmen würde.»

Fakt ist: Wird eine Ausnahmeregelung von der FIS akzeptiert, gilt sie für den ganzen Weltcupwinter.

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