Corinne Suter liebt das Tempo. Rast sie in tiefer Hocke die Skipiste runter, ist sie im Element. In ihrem «Tunnel», wie sie es formuliert. Dabei ficht sie einen Kampf gegen die Zeit aus. Tick, tack, tick, tack – je eher die Uhr bei der Zieldurchfahrt stoppt, desto besser. Und tatsächlich: Im letzten Winter hielt sie bei Suter oft früh an. Die 25-Jährige gewann die Disziplinenwertung in Abfahrt und Super-G. Damit schrieb Suter Ski-Geschichte. Sie ist die erste Schweizerin seit Michela Figini 1988, der das Double gelang. Suter, die Speed-Königin!
«So fühle ich mich nicht», sagt sie. Sie bleibt, wie sie immer war: bescheiden. SonntagsBlick trifft den neuen Stern am Schweizer Ski-Himmel in Brunnen SZ, ganz in der Nähe ihres Wohnorts Schwyz.
Die Sonne scheint, das Wasser im Vierwaldstättersee ist glasklar, einige Menschen flanieren. Suter ist gut gelaunt, wirkt ausgeruht und entspannt. Die Frau, die im Winter um jeden Hundertstel kämpft, schiebt eine ruhige Kugel. «Stimmt», sagt sie schmunzelnd. «Einen Monat! So lange war ich wohl noch nie am Stück zu Hause, seit ich Skirennen fahre.»
Die Corona-Krise hat auch die schnellste Frau der Welt ausgebremst. «Dabei wäre es in den Bergen noch so schön», sagt Suter und blickt in Richtung zu den nach wie vor verschneiten Gipfeln. Eine Klage ist das jedoch nicht. Im Gegenteil: Suter nimmt die Situation hin, wie sie ist.
«Die Gesundheit der Menschen ist wichtiger als Skifahren.» Dass die Weltcup-Saison vor einem Monat abgebrochen werden musste und sie ihre Kristallkugeln nicht nach einem Rennen erhielt, findet sie schade. «Aber keinesfalls entscheidend.»
Die Party wird nachgeholt
Als Suter diese Worte sagt, sitzt sie draussen vor dem Seehotel Waldstätterhof. Drinnen hätte sie nach dem Winter eigentlich eine grosse Party feiern wollen – mit Familie, Freunden und Sponsoren. «Zum Glück hatten wir noch nicht reserviert», meint sie schmunzelnd. Sobald die Corona-Krise überstanden sei, möchte Suter das Fest nachholen. «Das haben alle verdient. Denn ganz viele Leute haben einen Anteil an meinem Erfolg.»
Noch ist nicht absehbar, wann die Party steigen wird. Es gelte zuerst, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen, so Suter. Dafür brauche es Geduld. Und das Gegenteil von Aktionismus. «Es wäre schön, wenn ich jetzt meine Freunde sehen könnte. Denn jetzt hätte ich Zeit. So bin ich halt viel daheim. Aber langweilig wurde mir trotzdem noch keine Minute», sagt Suter.
Das überrascht, gilt sie doch als Tausendsassa, der kaum still sitzen kann. «Stimmt nicht immer. Ich lese jetzt viel. Aktuell die Biografie von Anna Veith. Und jene von Franz Heinzer und Pirmin Zurbriggen liegen auch schon bereit», so Suter.
Das ist aber nicht alles: Sie mistete auch schon ihr Zimmer aus und räumte den Keller auf. Dabei packte sie wie jedes Jahr eine grosse Tasche für ihren Onkel Josef – mit Jacken, Mützen, Pullovern und Stiefeln. Was es damit auf sich hat? Josef fliegt regelmässig nach Sambia und verteilt die Kleider an bedürftige Menschen.
Ski-Jacken für Sambia
«Dort kann es sehr kalt werden. Das glaubte ich zunächst auch nicht. Doch als er mir Fotos von Menschen mit meinen Swiss-Ski-Jacken zeigte, wurde es mir bewusst. Und die Dankbarkeit, welche ich in den Gesichtern der Menschen sah, berührte mich. Ich will eines Tages unbedingt auch einmal nach Sambia fliegen.»
Das ist momentan – so wie für ihren Onkel – nicht möglich. Dennoch: Die Tasche steht für alle Fälle bereit.
Garantiert nie verschenken wird Suter dagegen ihre zwei frisch gewonnenen Kristallkugeln. Aktuell stehen sie in einer Vitrine im Haus ihrer Eltern Silvia und Bruno. «Aber nicht am gleichen Ort wie die WM-Medaillen. Diese sind in der Küche aufgehängt», erzählt Suter.
Glücklich ist der Shootingstar damit nicht ganz. «Ich bin eine Person, die gerne mal in Erinnerungen schwelgt. Dafür müssten alle Auszeichnungen an einem Ort ausgestellt sein. Zuletzt sah ich, wie Schwingerkönig Christian Stucki genau dies hatte – in einem eigenen Stübli. So was fände ich auch cool.»
Das ist Zukunftsmusik. Fakt ist aber auch: Macht Suter in ähnlichem Tempo wie in den letzten zwei Saisons weiter, braucht das Stübli eines Tages genügend Regale. Denn: Nach Silber und Bronze bei der WM in Are im Februar 2019 startete das «ewige Talent», wie viele sie einst nannten, durch. In Zahlen ausgedrückt: Suter fuhr in 17-Speed-Rennen 9 (!) Mal aufs Podest. Dabei gewann sie auch ihre ersten beiden Weltcuprennen.
«Die Kugel beim Heimrennen – unbeschreiblich»
Mehrere dieser Wettkämpfe hat sie sich in den letzten Wochen auf Video nochmals in Ruhe angeschaut. «Ich hatte plötzlich dieses Bedürfnis. Es war schön, die Ruhe dafür zu haben.» Als Höhepunkt pickt sich Suter nicht einen Sieg heraus, sondern einen zweiten Platz – jenen bei der Abfahrt von Crans-Montana VS. «Dadurch war klar, dass ich die Kristallkugel in der Tasche habe. Und das bei einem Heimrennen – unbeschreiblich.»
Gleichzeitig gibt Suter zu, dass es ihr vor dem Rennen gar nicht gut ging. «Ich war so nervös wie noch nie. In der Nacht wachte ich stündlich auf und dachte: Wann ist endlich Morgen? Ich wollte einfach aufstehen und auf den Berg gehen.» Irgendwann ging die Sonne auf und das Startsignal ertönte. Suter behielt die Nerven und fuhr bärenstark. «Mittlerweile glaube ich, dass mich Druck sogar besser macht. Ich brauche ihn.»
Das war früher ganz anders. Jahrelang zerbrach Suter an den eigenen, hohen Erwartungen. Die Doppel-Junioren-Weltmeisterin von 2014 drohte im Niemandsland zu versinken. Doch das WM-Märchen löste alle Fesseln, seither fährt sie losgelöst – trotz der gestiegenen Erwartungen. «Corinne macht sich nach Niederlagen nicht mehr selbst fertig. Sie hat ihre eigenen Stopp-Schilder gesteckt und blickt schnell wieder nach vorne», sagt Alpin-Direktor Walter Reusser.
«Angelo musste viel aushalten»
Suter ist einverstanden. «Ich hake eine schlechte Leistung schneller ab», sagt sie. «Aber immer gelingt es mir nicht», ergänzt sie. Ein Beispiel? Nach Platz 5 in der Abfahrt von Garmisch-Partenkirchen (De) im letzten Januar war Suter komplett bedient. «Das Resultat war letztlich gut. Aber ich fuhr schlecht. Und war darum wütend. Angelo musste an diesem Nachmittag viel aushalten», sagt sie lachend und meint ihren Freund Angelo.
Dieser begleitete sie vor Ort. «Er ist mein Blitzableiter. Bei ihm kann ich immer ehrlich sein und meinen Emotionen auch mal freien Lauf lassen. Andere wären dann vielleicht verletzt, doch er versteht genau, wie ich ticke», so Suter über den Versicherungsexperten. «Angelo ist die Person, die mir am nächsten steht. Er weiss, wie viel ich investiere und wie ich mich fühle. Und dass diese Gefühle auch mal raus müssen. Ich bin ihm sehr dankbar.»
Mit ihrem Freund verbring Suter derzeit auch die Ostertage. «Normalerweise kommt spätestens am Sonntag die ganze Familie zusammen. Es gibt einen schönen Zmittag und dann gehts auf Ostereier-Suche. Das ist vor allem für meinen Göttibueb Alessio ein Highlight», erzählt Suter.
Leichtes Kombi-Training
Diesmal sei die Situation aber anders. Ihre Mutter würde zwar einen Krustenbraten vorbereiten, doch diesen wird Suter aus der angemessenen Entfernung geniessen. «Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich jemanden anstecken würde. Darum nehme ich auch Abstand», so Suter. Einige ihrer eigenen Corinne-Suter-Schoggi-Häsli, welche die Konditorei Schelbert extra herstellt, werde sie dann aber schon noch geniessen. «Im Winter esse ich kaum Süsses. Jetzt geniesse ich es aber umso mehr.»
Bleibt die Frage: Wie lange wird Suter – salopp gesagt – noch eine ruhige Kugel schieben? «Ich habe bereits wieder mit leichtem Kondi-Training begonnen und freue mich auf den Tag, wenn alles wieder normal wird.»
Wann das sein wird, kann auch sie nicht einschätzen. Einen Blick in die sportliche Zukunft macht Suter aber doch. Und sagt: «Ein grosses Ziel ist, in Peking 2022 eine Medaille zu gewinnen.» Schon als Kind seien Olympische Spiele für sie das Grösste gewesen. «Die gibt es nur alle vier Jahre. Eine Chance auf Edelmetall bekommt man also nicht oft. Umso wichtiger ist es, genau dann bereits zu sein», so Suter. Gut möglich, dass ihr Trophäen-Stübli dann Zuwachs erhält.