Der 15. Dezember 2018 gehört zu den dramatischsten Tagen in der Schweizer Ski-Geschichte. An diesem Samstag erleidet Marc Gisin in Val Gardena bei einem fürchterlichen Crash beim ersten Kamelbuckel ein schweres Schädel-Hirntrauma, eine Lungenkontusion sowie Becken- und Rippenbrüche. Der Bruder der Olympiasiegerinnen Dominique (38) und Michelle Gisin (30) befindet sich länger in einem sehr kritischen Zustand. Es dauert ein paar Tage, bis die Ärzte Entwarnung geben können.
Der Engelberger kämpft danach in heldenhafter Manier für ein Comeback im Weltcup. Bei den Trainings muss er sich jedoch eingestehen, dass seine Reflexe für die Rückkehr an die Weltspitze nicht mehr schnell genug sind. Im November 2020 erklärt Gisin mit 32 seinen Rücktritt. «Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich eines Tages in einer anderen Funktion in den Alpin-Zirkus zurückkehren werde», verrät der 1,99 Meter-Mann, der in Kitzbühel auf der gefährlichsten Abfahrt der Welt zweimal in die Top-5 gedonnert ist.
«Cuche ist noch mehr ins Detail gegangen als Odermatt»
Eine Whatsapp-Nachricht von Marco Odermatt hat dann aber im letzten Winter zu Gisins Meinungsumschwung geführt. «Odi hat mich gefragt, ob ich Interesse am Rennleiter-Posten bei Stöckli hätte. Je länger ich darüber nachgedacht habe, umso mehr hat mich diese Aufgabe gereizt. Irgendwann habe ich mich dann tatsächlich offiziell für diesen Job beworben. Weil ich als Rennfahrer nie Stöckli gefahren bin, war ich ziemlich überrascht, dass ich den Zuschlag erhalten habe.»
Auch dank der Unterstützung von seinem Vorgänger Beni Matti fühlt sich Gisin richtig wohl in seiner neuen Tätigkeit. «Weil mir Beni immer noch zur Seite steht, kann ich neben meinem Rennchef-Posten mein Studium in Wirtschaftspsychologie fortsetzen. Das ist für mich die ideale Konstellation.»
Aber ist die Zusammenarbeit mit dem Ausnahme-Athleten Odermatt wirklich so unkompliziert, wie die meisten Leute glauben? «Marco fordert uns zwar schon sehr, er tut dies aber jederzeit in einer sehr fairen, konstruktiven Weise. Er kommt nie mit irgendwelchen Spinnereien daher, seine Inputs und Feedbacks haben alle Hand und Fuss», verrät Gisin. Bei der Frage, ob Odermatt auch bei der Weiterentwicklung des Materials der Grösste sei, gerät Gisin kurz ins Grübeln. Dann sagt er aber ganz klar: «Ein Didier Cuche ist in seiner sportlichen Blütezeit noch mehr ins Detail gegangen, der hat alles auf die Spitze getrieben. Odi konzentriert sich auf die elementaren Dinge.»
Einzigartige Mischung aus Modellathlet und Lausbub
Gisin und Odermatt hatten bereits als Rennfahrer einen besonderen Draht zueinander. Als der Nidwaldner im November 2018 erstmals mit den Abfahrern auf die Nordamerika-Tour gegangen ist, hat er sich mit dem Obwaldner ein Zimmer geteilt. «Da habe ich bemerkt, dass dieser Odermatt eine ganz besondere Mischung aus einem extrem zielstrebigen Mann und einem Lausbuben verkörpert», verrät Gisin und liefert ein Beispiel: «An der Wand unseres Schlafzimmers in Panorama hingen zwei paar uralte Schneeschuhe als Dekor. Marco hat aber keine Ruhe gegeben, bis wir sie abmontiert haben und damit rund eine Stunde durch die kanadische Wildnis gelaufen sind. Es war ein riesengrosser Spass!»
Viel Spass dürften Odermatt und Gisin auch nach dem letzten Rennen in Saalbach haben, wenn die beiden mit einem gehaltvollen Getränk auf diesen grandiosen Winter anstossen.