Der grosse Sieger ist ein anderer. Christian Stucki (32), der Hüne aus dem Seeland, schlägt vergangene Woche im Unspunnen-Schlussgang seinen Berner Mannschaftskollegen Curdin Orlik und sichert sich den Sieg im prestigereichen Schwinget.
Im letzten Moment, buchstäblich. Denn hätte sich Orlik nur ein bisschen länger zu halten vermocht, der Entlebucher Joel Wicki (20) hätte den Triumph geerbt. «62 Sekunden», sagt Wicki wie aus der Pistole geschossen. Er weiss ganz genau, wie wenig im Herzschlagfinale fehlte. «Ich wusste ja, dass die beiden Berner einen Sieger haben mussten», denkt er an den letzten Sonntag zurück. «Darum habe ich am Anfang nicht daran zu glauben gewagt, dass der Gang gestellt enden könnte. Aber dann dauerte es länger und länger, da habe ich schon angefangen, auf ein Wunder zu hoffen.»
Doch dann liegt Orlik doch noch im Sägemehl. Stucki jubelt. Und Wicki bleibt nach «der längsten Viertelstunde meines Lebens» ein schwacher Trost: Platz 2 und der inoffizielle Titel als Sieger der Herzen. Mit seinem stürmischen Stil hat sich der Innerschweizer die Sympathien der Fans in der 15 000er-Arena und an den TV-Bildschirmen erkämpft. Nacheinander überrennt er die Eidgenossen Graber, Kämpf, Armon Orlik, Bless. «Man soll ja etwas bieten», erklärt er. «Wenn du etwas riskierst, verlierst du manchmal auch, klar. Aber das gefällt den Leuten – und das gefällt mir.»
Dass es am Ende nicht gereicht hat, das fuchst den Baumaschinenmechaniker schon. Aber keine Woche nachdem er in Interlaken am grössten Sieg seiner Karriere vorbeigeschrammt ist, beweist der 20-Jährige eine bemerkenswerte Reife. «Der Sieger der Herzen zu sein, das ist schon cool. Es sprechen mich sehr viele Leute an, die mit mir gefiebert haben, die meinen Auftritt gut fanden. Das bedeutet mir viel.»
Dass sein Duell mit Kilian Wenger im ersten Gang gestellt endete, obwohl die TV-Bilder den Eindruck vermitteln, Wicki habe Wenger auf dem Rücken gehabt, bringt ihn nicht mehr auf die Palme. «Schliesslich musst du so schwingen, wie es der Kampfrichter sieht», sagt Wicki. «Da sollte man sich nicht während oder nach dem Gang aufregen. Auch wenn man sich dann fragt, ob es so in den Schlussgang gereicht hätte.» Rechnerisch ist der Fall klar: Wäre Wicki gegen Wenger zum Sieger gekürt worden, er wäre in der Endausmarchung um den Unspunnen-Sieg gestanden. Er hätte sein Schicksal in den eigenen Händen gehabt. Aber Wicki will nicht mehr hadern. «Das bringt nichts.»
Die Jagd gibt ihm seine bemerkenswerte Ruhe
Woher kommt diese Ausgeglichenheit? Wo andere viel Geld für Meditation und Yoga-Stunden ausgeben, geht Wicki mit seinem Vater Herbert jagen. Auch diese Woche ist er auf der Hochwildjagd. «Man ist viel draussen in der Natur, man nimmt sich Zeit, kann nichts planen. Wenn es regnet, dann regnet es eben», sagt Wicki. Stumpfes Ballern ist seine Sache dabei nicht. «Das wird häufig falsch verstanden», ärgert er sich. «Jagen ist vor allem ein Pflegen der Natur, wir Jäger sorgen dafür, dass das ökologische Gleichgewicht gewahrt bleibt.» Im Moment ist er dabei, das Jagdpatent zu machen, bis nächsten Frühling sollen alle Prüfungen abgeschlossen sein.
Dann will Wicki auch im Sägemehl wieder angreifen. Er hofft, nach zwei Jahren mit Unterschenkelfraktur und Aussenbandrissen am Sprunggelenk endlich verletzungsfrei zu bleiben. «Nach dem Unspunnen bin ich an einem Punkt, wo ich weiss: Ich kann mich gegen die Besten durchsetzen. Ich habe mir die Gänge vom Unspunnen diese Woche oft angeschaut. Das motiviert mich. Ich hätte am liebsten morgen gerade wieder ein grosses Fest.»
Die Jagd geht weiter.