Schwingen ist ein Einzelsport. Mann gegen Mann. Auge in Auge.
Wirklich? So einfach ist es nicht. Denn Schwingen ist zu grossen Teilen auch ein Mannschaftssport. Die Rivalität zwischen den Teilverbänden ist gross.
Das muss wissen, wer den Ausgang des Unspunnen-Schwinget verstehen will.
Da stehen sich mit Favorit Christian Stucki und dem aus Graubünden zugezogenen Überraschungsmann Curdin Orlik zwei Berner Verbandsvertreter gegenüber. Gibt es keinen Sieger, gewinnt der überragend schwingende Innerschweizer Joel Wicki das Fest.
Und jetzt? Stucki beisst sich an Orlik die Zähne aus. Er ist stehend k. o. Es ist noch eine Minute zu schwingen. Orlik hätte diese Minute noch locker überstehen und die Niederlage abwenden können.
Aber dann wäre die 30-jährige Durststrecke der Berner am Unspunnen verlängert worden. Die Zeit in diesem Schlussgang läuft unerbittlich. Wer opfert sich jetzt?
Orlik wird offensiver. Er geht am Schluss Risiken ein. Einige sagen: Er hat sich im Dienst der Mannschaft hingelegt. Und Stucki profitiert.
Natürlich: Der Gigant aus dem Seeland ist ein würdiger und verdienter Sieger. Seit dem verlorenen Schlussgang beim Eidgenössischen in Burgdorf 2013 und seinem Siegerkuss für Matthias Sempach geniesst der fairste Verlierer der Geschichte ungeahnte Sympa-thien. Keiner, der ihm diesen Triumph nicht gönnen würde.
Und klar: In Bern hätte man sich grün und blau geärgert, hätte man den Festsieg verpasst. Man hätte viel Kopfschütteln geerntet. Und mit einem gestellten Schlussgang hätte auch Curdin Orlik nichts gewonnen.
Gab es im Vorfeld des Schlussgangs eine interne Berner Absprache? Der Technische Leiter Peter Schmutz sagt: «Wir haben natürlich geredet. Ich habe gesagt: Freunde, ihr wisst, was auf dem Spiel steht!»
Teambetreuer Dieter Haller geht noch einen Schritt weiter. «Ich habe ihnen gesagt: Unspunnen ist Berner Boden. Den geben wir nicht preis. Ein gestellter Schlussgang kommt nicht in Frage!»
Und Haller war es auch, der dann mit dem GAU vor Augen gegen Ende des Schlussgangs in den Ring geschrien hat: «Riskiert etwas!» Orlik ist seinem Ruf gefolgt und hat seine Opferrolle angenommen.
Als neutraler Zuschauer kann man sich wundern. Als Innerschweizer kann man schimpfen. Aber so ist das halt in diesem Sport. Er ist viel mehr Mannschaftssport, als man gemeinhin annimmt. Gerade in Bern wird dieser Gedanke extrem gelebt.
In Interlaken steht der «Mystery Park», der jetzt «Jungfraupark» heisst. Und dort kann man «unerklärliche und doch real fassbare Rätsel» bestaunen. Eines dieser Rätsel hat Unspunnen jetzt geliefert.
Christian Stucki hat das nicht zu kümmern. Er hat dieses tolle Fest gewonnen, er krönt seine grandiose Karriere. Und nimmt Siegermuni «Gottlieb» mit nach Hause.
Vielleicht ist der Name des Siegermunis Programm. Vielleicht hat ihm ja der Siegermuni im Schlussgang göttliche Unterstützung geliefert. Der überwältigte Stucki, der Curdin Orlik ja bereits im vierten Gang bezwungen hat, sagt jedenfalls: «Curdin hat mir nichts geschenkt.»
Der Ärger in der Innerschweiz ist nachvollziehbar. Aber es ist richtig und gut, so wie es ist.