Sonia Kälin wird erneut Schwingerkönigin
Die «Böseste» der Schweiz

Morgen Sonntag wird Sonia Kälin zum zweiten Mal zur Schwingerkönigin gekrönt. Sie ist das Aushängeschild einer neuen Generation von Schwingerinnen.
Publiziert: 03.10.2015 um 22:08 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 22:12 Uhr
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Sonia Kälin (r.) im Sägemehl – zusammen mit Schwester Marian.
Foto: PHILIPPE ROSSIER
Adrian Meyer (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Natürlich fallen sie, die zweideutigen Sprüche. Im Schwingkeller stehen Männer voller Sägemehl, keuchend, dampfend vor Anstrengung. Es war ja lange nur ein Männersport, das Schwingen. Sonia Kälin (30) fällt hier auf. Noch immer, nach all den Jahren. Seit sie 16 war, trainiert sie mit den Männern des Schwingklubs Einsiedeln SZ. An die Sprüche hat sie sich längst gewöhnt. Und kontert sie gelassen.

«So, Hosen anziehen.» Kälin klatscht zweimal in die Hände. Sie steht im Sägemehl, im Sennenhemd und in der Zwilchhose, ihre kurzen, blondierten Haare keck nach oben gegelt. Die Männer steigen zu ihr in den Ring, zurren ihre Gurte fest. Zusammen drehen sie Aufwärmrunden. Nach wenigen Minuten rinnt der Schweiss.

Die Krone gehört ihr schon vor dem grossen Finale

Zuvor begrüsste die Frau ihre Trainingspartner mit kräftigem Händedruck und Schulterklopfen. Im Gegenzug gratulierten sie ihr zum ersten Rang am Frauenschwingfest in Oberthal BE. Und damit zum Sieg in der Jahreswertung. Sonia Kälin ist schon vor Saisonende uneinholbare Schwingerkönigin. Bei den Frauen wird die Krone jährlich vergeben (siehe Kasten), nächstes Wochenende geht die Saison mit dem Eidgenössischen Frauenschwingfest in Gränichen AG zu Ende. Und den Titel kann ihr niemand mehr rauben. Zum zweiten Mal nach 2012 ist sie die «Böseste» der Bösen. «Es ist arschgeil», sagt sie. «Und beweist, dass ich nicht zufällig Königin wurde.»

Sonia Kälin ist das Aushängeschild einer neuen Generation von Schwingerinnen, die ihren Sport mit neuem Selbstbewusstsein betreibt. Und sich nicht mehr darum kümmert, was die Männer davon halten. «Wir werden heute viel ernster genommen», sagt die Meisterin, «weil wir seriös trainieren, für den Sport leben und technisch immer besser schwingen».

Dem Sport ordnet sie fast alles unter. Jede Minute ihrer Freizeit. Nur ihr Job als Sekundarlehrerin in Einsiedeln ist ihr wichtiger. Zeit für einen Freund bleibt da nicht. Eine eiserne Disziplin habe sie, sagen die Konkurrentinnen. Sie sei blitzschnell, habe eine unglaubliche Kampftechnik, fokussiere wie keine andere auf die Gegner. Wie eine Maschine.

Es ist noch nicht allzu lange her, da schien es für Männer undenkbar, dass an einem Schwingfest gleichzeitig ein Frauenschwingen stattfindet. Schwingerinnen wurden als Mannsweiber belächelt, sie mussten ihr Recht aufs Sägemehl erst erkämpfen. «Da wird man schon ein wenig zur Feministin: Wieso soll ich trotz Gleichberechtigung für alles kämpfen, bloss weil mir der Zipfel fehlt?», sagt Sonia Kälin. Noch immer akzeptieren das Frauenschwingen nicht alle. «Jene, die uns offen ablehnen, werden zum Glück immer weniger.»

Im Schwingkeller trainieren die Mädchen mit den Jungen

Mittlerweile ist Kälin Ehrengast am Eidgenössischen der Männer, posiert neben dem Schwingerkönig im Schwingerkalender oder in der «Schweizer Illustrierten». «Ich habe keine Lust, mich immer für meinen Sport rechtfertigen zu müssen», sagt sie. «Der Sport war für mich stets das normalste der Welt.»

Im Einsiedler Schwingkeller trainieren die Jungschwinger seit Jahren zusammen mit den Mädchen. Man geht nicht zimperlich miteinander um, hat keine Hemmungen. Sonia Kälin greift mit einem der jüngeren Schwinger zusammen. Er ist kräftig und zwanzig Kilogramm schwerer als sie. Ein optimaler Trainingspartner. Sie fassen sich an die Zwilche, die Füsse suchen nach Halt, die Köpfe liegen auf den Schultern des Gegenübers. «Gut?», fragt er. «Ja», antwortet sie. Ein Ruck, blitzschnell zieht sie am Gurt. Er reagiert sofort, drückt dagegen. Sie verliert das Gleichgewicht, fällt ins Sägemehl, ihr Rücken beugt sich durch, sie macht die Brücke, verharrt für ein paar Sekunden in dieser Position – und windet sich raus.

Zweiter Versuch. Jetzt bringt sie ihn mit dem «inneren Haken» zu Fall, ihrem Lieblingsschwung. Sie zieht ihn mit aller Kraft an ihren Körper, hakt mit ihrem rechten Bein an sein linkes ein, stösst ihn wuchtig vorwärts, ächzt und keucht, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. «Zieh durch Sönel!», rufen sie am Rand des Sägemehls. Sie dreht ihn tatsächlich auf den Rücken. An diesem Abend wird ihr das bei keinem anderen Schwinger gelingen.

«Gegen die Männer habe ich körperlich eigentlich keine Chance», sagt sie. «Die müssen nur einmal Gas geben, dann bin ich platt.» Der raue Umgang hat Kälin abgehärtet. Hier wurde sie zum «Kasten». Im Sägemehl ein entscheidender Vorteil: Sie perfektioniert Verteidigungspositionen, mit denen sie sich selbst bei massigen Gegnerinnen aus kniffligen Lagen befreit.

Wer der zierlichen Frau zum ersten Mal begegnet, denkt nicht, dass sie schwere Gegnerinnen niederringt. Sie selber wiegt bloss 65 Kilogramm. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man die muskulösen Schultern, die aufrechte Haltung, die körperliche Spannung. «Ich war früher schüchtern», sagt Kälin mit fester Stimme. «Heute habe ich keine Angst.» Beim Schwingen kriege sie oft aufs Dach. Wieder aufzustehen, sei eine gute Lebensschule.

Zum Schwingen kam die Schwyzerin, wie fast alle im Sport, über die Familie. Aufgewachsen ist sie auf einem Bauernhof am Südhang des Etzels, hoch über dem Sihlsee im Weiler Egg bei Einsiedeln. Kühe, Hühner, ein Pferd und ein Pony, eine Hofkatze. Hier wohnt sie noch immer. Vater Benedikt schwang, ebenso ihr Onkel Peter Suter. Er gewann 1996 auf der Rigi, seine Kämpfe verfolgte sie als Kind am Radio. Als Bruder Benedikt mit zehn Jahren zum ersten Training im Schwingclub Einsiedeln sollte, gingen sie und die Schwestern Marian (27) und Heidi (26) einfach mit. Ihren ersten Kranz gewann die Sportlerin mit 18 Jahren. Mittlerweile sind es 28.

Sie passt nicht ins Klischee der stämmigen Schwingerin

Als sie 2012 den Schwingerinnenthron bestieg, tat sich ihr eine komplett neue Welt auf. Die Medien mochten die hübsche Frau, die so gar nicht ins Klischee der stämmigen Schwingerin passte. Sie wurde an Anlässe eingeladen, machte 2013 am Eidgenössischen in Burgdorf Duzis mit Sportminister Ueli Maurer. Noch heute ist sie die einzige Schwingerin mit Sponsoren. Sie weiss um die Aufmerksamkeit und nutzt diese geschickt, um das Frauenschwingen bekannter zu machen.

Im Übungskeller sind die Schwinger noch ­immer an der Arbeit, vier Paare gleichzeitig verknoten sich im Sägemehl. Die Luft ist muffig, vom Atem der Schwinger. Kälin greift mit ihrer Schwester Marian zusammen, es ist der letzte Kampf an diesem Abend. Seit Jahren trainieren die beiden gemeinsam. Sie unterstützen sich, wo es nur geht, aber im Sägemehl sind sie harte ­Konkurrentinnen. Wie im letzten Frauenschwingen im bernischen Oberthal, als sie beide im Schlussgang gegeneinander kämpften.

Nach wenigen Sekunden winden sie sich am Boden. Marian ist im Nachteil, Sonia steigt um sie herum, packt mit beiden Händen ihre Beine, hebt sie in die Luft und dreht den Körper wie eine Schraube auf die Schulter. Ein beeindruckender Anblick. «Ich gehe fast in jedem Training an meine körperlichen Grenzen», sagt sie. «Dieses Kräftemessen im Zweikampf finde ich extrem faszinierend. Herauszu­finden, wer schneller ist, stärker und vifer.»

Das Training ist vorbei, Sonia Kälin lehnt lässig über der Holzbrüstung am Rand des Rings. Ihre Frisur ist verstrubbelt, Sägemehl klebt in ihrem geröteten Gesicht. Sie lauscht den Machosprüchen ihrer Schwingerkollegen, lächelt müde. Es ist eine ziemlich coole Pose, die sie da einnimmt. Eine, die signalisiert: Redet nur, ihr könnt mir nichts anhaben.

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