BLICK: Matthias Glarner, Sie wollten für den BLICK-Fotografen auf keinen Fall vor einer Gondel posieren. Warum?
Matthias Glarner: Der Sturz von der Gondel ist ein Teil meiner Geschichte, das ist klar. Aber irgendwann will ich das abschliessen. Darum ist es vielleicht besser, wenn man dann nicht auch noch mit Gondeln und Masten posiert.
Für die Öffentlichkeit sind Sie heute der Schwingerkönig, der bei einem Fotoshooting von der Gondel stürzte und sich schwer verletzte. Stört Sie das?
Wie soll ich das sagen? Es ist schön, wenn die Leute fragen, wie es einem geht, sich für einen interessieren. Aber manchmal… Die ersten 20, 30 Male ist es in Ordnung. Beim 31., 32. Mal denkst du dann irgendwann: «So jetzt ist es dann auch gut.» Im Kopf bin ich schon weiter. Ich denke, an den nächsten Wettkampf, ans Eidgenössische 2019 in Zug. Der Unfall ist ja bald ein Jahr her.
Wir fragen jetzt auch noch: Wie geht es Ihnen?
Gut. Ich spüre noch, dass da etwas passiert ist. Das wird eine Weile so bleiben. Aber es ist erträglich, ich kann damit umgehen. Und vor allem damit Schwingen.
Haben Sie noch Schmerzen?
Die groben Sachen sind zusammengewachsen, die Knochenbrüche. Jetzt ist da noch die komplexe Knorpelverletzung im Fuss, die mir die meiste Mühe bereitet hat. Aber ich bin jetzt auf einem guten Stand. Am Montag in Interlaken wage ich einen ersten Start.
Sind Sie also voll einsatzfähig?
Ich muss Vollgas geben können und nicht an den Fuss denken müssen, sonst macht ein Wettkampf keinen Sinn. Ich kann meinem Gegner ja nicht sagen: «Tu ein bisschen weniger» oder «Häb e chli Sorg.» (lacht) Das ist für mich die Grundvoraussetzung, um ein Schwingfest bestreiten zu können. Der Fuss gibt vor, wie schnell ich zurückkommen kann.
Sie waren noch nie so schwer verletzt, mussten lange pausieren. Haben Sie sich von einer anderen Seite kennengelernt?
Es war sicher keine schlechte Erfahrung.
Inwiefern?
Bisher waren meine Blessuren immer innerhalb von vier Wochen wieder gut. Diesmal nicht, ich hatte plötzlich Zeit. Ich konnte endlich reflektieren, was alles war. Plötzlich fiel mir ein, was ich in den letzten Jahren alles erlebt hatte, wo ich überall war.
Konnten Sie das vorher nicht?
Sonst ist man in einem Hamsterrad, denkt von Woche zu Woche, von Fest zu Fest, von Saison zu Saison. Da hast du gar keine Zeit, daran zu denken, was du alles erreicht hast.
Was wurde Ihnen denn bewusst?
Die Saison 2016 war der Wahnsinn für mich. Ich gewann meinen Hundertsten Kranz, dazu das Berner Kantonale. Das war für sich schon sehr emotional. Aber unmittelbar danach stand das Brünig-Schwinget an. Und drei, vier Wochen später das Eidgenössische, wo ich Schwingerkönig wurde, dann kamen die «Sports Awards», wo ich nominiert war. Das war alles schön, aber so schnell vorbei. Jetzt hatte ich endlich Zeit.
Dann haben Sie das Geniessen nachgeholt?
Das kann man so sagen, ja.
Wie hat Sie das letzte Jahr verändert?
Nicht so sehr, habe ich das Gefühl. Klar versucht man, aus Fehlern zu lernen. Aber ich war davor schon der vorsichtige Typ. Es hat mir gezeigt, was ein Arbeitsunfall für Folgen haben kann – vor allem, wenn du noch Schwingerkönig bist.
Sie sind vor fast einem Jahr aus zwölf Metern in die Tiefe gestürzt. Feiern sie am 27. Juni noch einmal Geburtstag?
Ich werde sicher zurückdenken und dankbar sein, dass nicht noch mehr passiert ist. Ich hatte riesiges Glück. Jetzt hoffe ich, dass ich vor allem bald wieder voll in der Saison bin. (Grinst) Ich hoffe, das war eine Ausnahmesituation letztes Jahr.
Hat Sie die riesige Aufmerksamkeit nach dem Unfall überrascht, mit live übertragenen Pressekonferenzen, wochenlangen Schlagzeilen?
Ich nehme mich selber nicht so wichtig, dass ich das Gefühl habe, es müsse die ganze Schweiz interessieren, wie es mir geht. Aber es zeigt, welchen Stellenwert das Schwingen und der Schwingerkönig haben. Das wiederum ist schön und sehr eindrücklich. Ich brauchte eine Weile, um einschätzen zu können, was es bedeutet, Schwingerkönig zu sein. Dass du es bist, weisst du relativ schnell. Aber was es heisst, das weisst du nicht.
Was heisst es denn?
Es ist eine Rolle, die mit grossen Erwartungen verbunden ist. Mir macht es nicht so viel Mühe, die auszufüllen. Ich glaube, ich kann dabei authentisch bleiben. Trotzdem sind viele Augen auf einen gerichtet. Alle schauen: Was machst du, auf welche Art machst du es? Das muss man sich bewusst sein.
Der Schwingerkönig stürzt bei einem Fototermin für ein Magazin in die Tiefe und verletzt sich schwer: Sie wurden mit ihrem Unfall zur Galionsfigur für die Diskussion um die Kommerzialisierung, die den Schwingsport beschäftigt. Verstehen Sie das?
Es zeigt mir vor allem, dass sehr viele Leute sehr wenig Ahnung haben. Es ging ja darum, mich bei der Arbeit zu zeigen. Mein Job bringt es mit sich, dass ich in der Höhe an den Gondeln arbeite. Wenn ich einen Bürojob hätte, hätte man das Foto halt im Büro gemacht. Das hat mit Kommerzialisierung absolut nichts zu tun.
Die Bilder sahen spektakulär aus, Ihr Unfall war es auch.
Nach aussen mag das spektakulär aussehen. Aber meinen Job machen in der Schweiz Tausend Leute, die Seilbahnrevisionen ausführen. Was die Bilder zeigen sollten, ist für die Alltag. Wie für mich auch. Darum habe ich nie verstanden, dass man dieses Foto so interpretiert. Ich habe 150-mal gemacht, was man auf den Bildern sieht. Beim 151. Mal ging es halt nicht gut.
Seit etwa einem Monat arbeiten Sie wieder in luftiger Höhe an der Seilbahn. Wie war es das erste Mal?
Ein paar Masten habe ich schon gebraucht, bis es sich wieder gut angefühlt hat. Die ersten Male habe ich mich ziemlich fest an den Mast geklammert. Aber es war wichtig für mich, dass ich das wieder gemacht habe. Da hat sich ein Kreis geschlossen.
Gibt es etwas bei der Arbeit, das Sie sich nicht mehr trauen?
Nein. Ich war schon wieder auf einer Barelle, der Transportgondel, mit der man hochfährt, um auf die Masten zu klettern. Am Anfang brauchte ich etwas länger als vorher für die gleiche Arbeit. Aber jetzt bin ich wieder auf dem Level von früher.
Spukt der Unfall manchmal noch im Hinterkopf herum?
Mir war wichtig, dass ich das bald wieder auf die Masten klettere. Wenn du es nicht rasch wieder machst, machst du es nie. Jetzt bin ich wieder in der Normalität. Und am Montag kommt der erste Wettkampf.
Was nehmen Sie sich für Ihr Comeback vor?
Ich muss herausfinden, wie es ist, wenn man den Fuss sechsmal aufwärmen muss, nicht nur einmal. Mal sehen, wie der Körper auf die Belastung reagiert. Ich hoffe, dass ich heute Abend einen Schritt weiter bin. Dann weiss ich, ob es schon für ein Kranzfest reicht oder nicht, wie die Saison weitergeht..
Wie schwer war es, nur zuschauen zu können, während die anderen im Sägemehl stehen?
Letztes Jahr beim Unspunnen war es nicht so hart, weil es völlig unrealistisch war, anzutreten. Aber je gesünder ich werde, desto stärker kitzelt es mich. Zuletzt habe ich am Live-Ticker mit meinem Cousin Simon Anderegg mitgefiebert. Ich habe mich ertappt, wie ich mich gefragt habe, ob ich am Samstag schon beim Oberaargauischen antreten kann. Das einfachste ist, wenn man mit dem Gips im Spital sitzt (lacht). Da gibt es keine Diskussion.
Werden Sie unerträglich, wenn es Sie langsam kitzelt?
Ich musste mich an den Sonntagen ablenken: Am Morgen ging ich in den Kraftraum, erst nach dem Mittagessen checkte ich den Ticker. Zuletzt war ich beim FC Thun im Stadion, mein Bruder spielt ja da. Und bei Wacker Thun war ich an einem der Playoff-Finalspiele. Aus Interesse, aber auch um auf andere Gedanken zu kommen.
Fiebern Sie mit den Wacker-Handballern mit?
Ich kenne ein paar der Jungs. Mit Luca Linder habe ich das Studium begonnen. Von Deschwanden kam dazu. Da fiebere ich dann schon mit, wenn ich die Leute kenne.
Als Berner haben Sie sich auch mit YB gefreut.
Extrem, vor allem für David von Ballmoos (Der Goalie verletzte sich im Winter schwer an der Schulter, d. Red.). Neben ihm lag ich diesen Frühling in der Reha in Magglingen oft auf dem Schragen. Er ist ein guter, bodenständiger Typ, einer, der auch zu uns Schwingern passen würde.
Hatten Sie auch psychologische Betreuung?
Ich arbeite seit über acht Jahren mit dem Sportpsychologen Robert Buchli zusammen, darum hatte ich bereits gewisse Grundlagen. Am zweiten, dritten Tag im Spital habe ich begonnen, es wie einen verlorenen Gang zu nehmen, wie ein Fest ohne Kranz. Es gibt gutes, schlechtes, man lernt aus den Fehlern. Abhaken, das Positive mitnehmen.
Das klingt aber einfacher, als es war, oder?
Es bleibt einem nichts anderes übrig. Man kann in Selbstmitleid versinken oder einen Strich ziehen und vorwärts gehen. Mein Naturell war immer, vorwärts zu schauen. Aber ich weiss, dass ich manchmal ein hoffnungsloser Optimist bin.
Wann hat es richtig weh getan?
Wenn die Ziele näherkamen, die ich verpassen würde. Der Brünig letztes Jahr zum Beispiel. Da habe ich gemerkt, wie sehr mir das Schwingen fehlt. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich gesagt, ich höre auf.
Worauf freuen Sie sich heute?
Auf die Spannung, das Aufwärmen, den ersten Gang, die Zuschauer. Und auf den Wettkampf, an dessen Ende man ein Resultat hat, das Gefühl danach. Das sind Dinge, die sehr süchtig machen.
Haben Sie Angst, dass der Fuss nicht so gesund genug sein könnte, dass Sie zurückkommen können?
Das ist die grosse Frage: Komme ich noch einmal auf das Niveau, das ich in Estavayer hatte? Ich brauche dieses grosse Ziel, um darauf hinzuarbeiten. Aber ich werde stärker sein müssen, wenn ich nächstes Jahr in Zug meinen Königstitel verteidigen will. Ich werde ein besserer Schwinger sein müssen, um etwas zu reissen.
Warum?
Schwingen entwickelt sich, die anderen werden besser. Das wird spannend: Kann ich die letzten 4, 5 Prozent rausholen? Gibt es etwas, was mich noch limitiert? Macht der Fuss mit?
Wann wissen wir das?
Im Herbst 2019. Ich stelle mich dem. Einfacher wäre gewesen, aufzuhören und zu sagen, «ich hätte schon gekonnt, wenn ich gewollt hätte». Aber das ist nicht mein Naturell.