Der frühe Vogel fängt den Wurm. Es ist 7 Uhr. Das Industriequartier in Weinfelden hat den unterkühlten Charme eines Hinterhofs. Hier wird nicht flaniert. Hier wird gekrampft.
Auch im oberen Stock in einem dieser Fabrikgebäude. In einer Halle, in der man nicht im trendigen, schicken Outfit zum Training erscheint. Es ist eine Kampfsporthalle, in der es nach Schweiss, Qual und Kampf riecht. In der sich einst auch Rocky Balboa wohlgefühlt hätte.
Geführt wird das Bang Rajan Muay Thai Center von David Strupler. Sein Bruder Manuel war eidgenössischer Kranzschwinger und sitzt heute für den Kanton Thurgau im Nationalrat. David hat sich, inspiriert vom legendären Andy Hug, dem Karate- und Kickboxen verschrieben. Er hat längere Zeit in Thailand gelebt und gekämpft. Bilder an den Wänden zeugen von seinen Abenteuern als Thaiboxer.
Jetzt gehört Schwinger Samuel Giger zu seinen Schützlingen. Zweimal in der Woche stählt der dominierende Mann im Sägemehl hier seinen Körper. Geredet wird nicht viel. Es wird gearbeitet. Giger, dessen Bizeps den Umfang des Oberschenkels eines durchschnittlichen Bürogummis hat, schüttelt sich zuerst den Schlaf aus dem Körper.
Und dann geht es los. Strupler, mit der Stoppuhr in der Hand und mit kurzen klaren Anweisungen. «Man sieht sofort, ob einer ein Grosser und ein Champion werden kann. Samuel ist so einer», sagt Strupler. Giger kriecht auf allen vieren mit Hanteln durch die Halle, stärkt mit einer Eisenkugel seine Nackenmuskulatur, stemmt Tonnen an Gewicht und wird nach neuster Trainingslehre von Parcours zu Parcours geführt.
Der Schweiss tropft. In jedem Augenblick wird klar, auf welch beeindruckendem athletischem Niveau sich die absoluten Stars der Schwingszene mittlerweile bewegen. Allen voran Sämi Giger. Bei seinen 1,94 Metern bringt er derzeit 123 Kilogramm auf die Waage. Im Winter etwas mehr, während der Saison etwas weniger. Die Gratwanderung zwischen Gewicht und Masse auf der einen Seite und der Beweglichkeit und der Kondition auf der anderen Seite ist eine der grossen Herausforderungen der Spitzenschwinger. Der Thurgauer setzt derzeit punkto Athletik den Massstab. Und ist in dieser Saison der dominierende Mann im Sägemehl. Und der Kronprinz auf den Königstitel, der im August in Pratteln vergeben wird.
Nach dem Training setzt sich Giger auf die Couch und macht das, was nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Er gibt ein Interview.
Samuel Giger, Ihr Trainer ist Kickboxer. Kennen Sie Andy Hug?
Samuel Giger: Natürlich. Aber nur aus Videos und aus Erzählungen von meinem Trainer. Ich selber war ja erst zwei Jahre alt, als Andy Hug gestorben ist.
Die Ambiance in dieser Trainingshalle erinnert auch an die alten Rocky-Filme. Waren diese Klassiker auch für Sie eine Inspiration?
Natürlich, die haben wir alle geschaut und waren irgendwie fasziniert. Da nimmt man schon was mit. Auf die Zähne zu beissen, auch mal zu leiden, den Sport ganz allgemein mit all seinen Höhen und Tiefen als Lebensschule anzunehmen. Da gehört auch dazu, dass man mit Hilfe des Sports zu einem flotten und zuverlässigen Menschen wird.
Ein anderer Kampfsport als Schwingen war nie ein Thema?
Für mich war schon als kleiner Bub klar, dass es nur das Schwingen gibt. Mein Vater ist eidgenössischer Kranzschwinger, meine Mutter kommt aus einer Berner Schwingerfamilie, meine Brüder Emil und Urs sind Schwinger, mein Onkel Simon Schild ist eidgenössischer Kranzschwinger. Das wurde mir in die Wiege gelegt. Ich habe Glück, dass ich ein solch tolles Umfeld habe.
Ihr Vater ist Appenzeller. Sie sind aber mit Ihrer Mutter schon im Alter von sechs Jahren in den Thurgau gezogen. Ist Samuel Giger mehr Appenzeller oder mehr Thurgauer?
Etwas dazwischen. Ich bin sehr verbunden mit dem Appenzell und mit seinem Brauchtum und seinen Traditionen. Aber natürlich ist mein Lebensmittelpunkt seit vielen Jahren im Thurgau.
Sie sind bereits in einer beängstigend guten Form. Haben Sie im Hinblick auf das Eidgenössische in Pratteln keine Angst, fast zu früh in Top-Form zu sein?
Wir haben einen klaren Plan und steigern die Intensität im Training im Lauf der Saison. Aber wenn man in den Sägemehlring steigt, dann will man gewinnen und bei jedem Fest sein Bestes geben. Da kann man sich nicht künstlich zurückhalten und schonen. Und mit den Erfolgen steigt ja auch das Selbstvertrauen. Ich bin sehr zufrieden mit dem bisherigen Saisonverlauf.
Sie haben im gesamten letzten Jahr einen einzigen Kampf verloren.
Das ist so, ja.
Nordostschweizer Balterswil TG
- Samuel Giger – Adrian Walther
- Nick Alpiger – Armon Orlik
- Damian Ott – Severin Schwander
- Joel Ambühl – Werner Schlegel
- Marcel Bieri – Roger Rychen
- Michael Bless – Samir Leuppi
- Stefan Burkhalter – Nöldi Forrer
- Martin Roth – Domenic Schneider
Nordostschweizer Balterswil TG
- Samuel Giger – Adrian Walther
- Nick Alpiger – Armon Orlik
- Damian Ott – Severin Schwander
- Joel Ambühl – Werner Schlegel
- Marcel Bieri – Roger Rychen
- Michael Bless – Samir Leuppi
- Stefan Burkhalter – Nöldi Forrer
- Martin Roth – Domenic Schneider
Und nach dem bisherigen Saisonverlauf sind Sie der absolute Top-Favorit auf den Königstitel in Pratteln.
Die Saison dauert noch lange. Es gibt viele Schwinger mit grossen Ambitionen. Bei einem Anlass wie dem Eidgenössischen muss alles zusammenpassen. Ich mache mir jetzt noch keine grossen Gedanken. Das Kribbeln wird dann früh genug kommen. Wichtig ist, dass man gesund bleibt.
Auch vor drei Jahren in Zug gehörten Sie zum engsten Favoriten. Wurden aber im Anschwingen von Nick Alpiger gebremst. Daher die Zurückhaltung?
Niederlagen gehören dazu, man muss daraus die richtigen Lehren ziehen und wieder vorwärtsschauen. Dann ist man nach solchen Rückschlägen stärker. Schwingen an der Spitze ist eine Gratwanderung. Ein Sekundenbruchteil Unaufmerksamkeit und man liegt auf dem Rücken.
In den nächsten fünf Jahren gibt es jedes Jahr ein Fest mit eidgenössischem Charakter. Nach dem ESAF in Pratteln das Unspunnenfest in Interlaken 2023, das Jubiläumsschwinget in Appenzell 2024, dann das ESAF in Mollis 2025 und dann wieder das Kilchberg-Schwinget 2026. Da kann Sämi Giger grosse Titel hamstern.
Ich bin jetzt sicher in einem guten Alter und habe gute Perspektiven. Aber wie gesagt: Bei solchen Festen muss sehr viel zusammenpassen, dass es zum Sieg reicht.
Würden Sie für zwei dieser fünf Titel heute unterschreiben?
Sofort! Aber es gibt ja auch noch andere Höhepunkte.
Beispielsweise?
Das Brünig-Schwinget in diesem Jahr ist für mich sicher auch ein grosser Höhepunkt. Als Ostschweizer hat man nur alle drei Jahre die Möglichkeit, an diesem legendären Schwingfest dabei zu sein. Die Chancen, auf dem Brünig ganz vorne dabei zu sein, sind an einer Hand abzuzählen.
Sie haben lange auf Social Media verzichtet, haben lukrative Werbeverträge abgelehnt und sich sehr zurückgezogen. Da hat sich mittlerweile einiges geändert.
Ja, das stimmt. Ich bin sicher offener und zugänglicher geworden. Aber ich habe diese Zeit gebraucht, ich würde das rückblickend wieder genau gleich machen. Ich habe mit 16, 17 Jahren die ersten Erfolge feiern dürfen. Plötzlich will jeder etwas, plötzlich gibt es Begehrlichkeiten rundherum. Ich war für diese Sachen noch nicht bereit und wollte mir Zeit lassen. Und ich wollte den Fokus nicht verlieren.
Die Begehrlichkeiten sind wohl nicht weniger geworden?
Das stimmt. Aber ich bin jetzt viel gelassener, kann mit diesen Dingen besser umgehen. Jeder, der etwas von mir will, sieht natürlich nur sein persönliches Anliegen und denkt nicht daran, dass ganz viele Leute etwas von einem wollen. Man wirkt dann schnell etwas unnahbar, wenn man nicht jeden Wunsch erfüllt.
Unerkannt irgendwo in Ruhe essen zu gehen, ist wohl schwierig?
In der Schweiz schon. Aber kaum ist man über der Landesgrenze, dann ändert sich das sofort. Da kennt man die Schwinger nicht. Es sei denn, man geht irgendwo in die Ferien, wo es viele Schweizer hat (lacht).
Haben Sie eigentlich Ihr Arbeitspensum im Hinblick auf das Eidgenössische reduziert?
Nein. Ich arbeite weiter als Lastwagenchauffeur mit einem 80-Prozent-Pensum. Das hat auch letztes Jahr bestens funktioniert, und es gibt für mich keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Begegnet man da auf der Autobahn auch einmal dem Lastwagenfahrer Christian Stucki?
Man kreuzt immer wieder Leute, die winken und hupen und die man kennt.
Sie sind ein Modellathlet. Ist ein Schwinger auch eitel und stolz auf seinen durchtrainierten Körper?
Primär geht es darum, genug Kraft zu haben und fit zu sein. Wie man aussieht, ist zweitrangig. Jeder hat eine andere Postur.
Hatten Sie schon Anfragen, für Werbung als Model zur Verfügung zu stehen?
Es gibt allerlei Anfragen.
Auch Fanpost von Groupies?
Wie gesagt, es gibt allerlei Post.
Sie leben zusammen mit Ihrer Freundin. Aber man hat Sie als Paar noch nie öffentlich gesehen.
Das ist ein bewusster Entscheid. Ich möchte mein Privatleben tatsächlich privat halten.
Der Boom beim Schwingen ist etwas abgeflacht. Warum?
Das öffentliche Interesse ist weiter gross, gerade in den Jahren mit einem Eidgenössischen. Aber wir mussten schon immer um den Nachwuchs kämpfen. Ich engagiere mich auch regelmässig bei Schnuppertrainings für Kinder. Und kann so dem Sport etwas zurückgeben.
Sie sind erst 24 Jahre alt und schon ein Routinier. Wie lange wird man Sämi Giger noch im Sägemehl sehen?
Das hängt von der Gesundheit ab. Aber ich denke, dass ich schon gerne noch zehn Jahre schwingen würde.
Ihr Klubkollege Stefan Burkhalter ist mit 48 Jahren noch mit dabei.
Das ist bewundernswert und verdient Respekt. Aber nochmals 24 Jahre lang bin ich sicher nicht im Sägemehl anzutreffen.