Es ist in der ersten Augustwoche, als Pirmin Reichmuth (26) seinem Sponsor aus der Fleischbranche eine Hiobsbotschaft übermittelt: «Die Teilnahme am Eidgenössischen macht für mich nach dem Unfall auf dem Brünig keinen Sinn. Die lädierte Bizepssehne stellt für mich ein zu grosses Handicap dar. Sehr wahrscheinlich werde ich mich nächste Woche operieren lassen.»
Doch dann läuft der Zuger an diesem Tag Nöldi Forrer (43) über den Weg. Der Schwingerkönig von 2001 kann nicht nachvollziehen, dass sich Reichmuth so schnell auf den OP-Tisch legen will. Der Toggenburger erzählt ihm deshalb eine heroische Episode aus seiner eigenen Biografie: «Weisst du, Pirmin, ich habe 2010 in Frauenfeld den eidgenössischen Kranz gewonnen, obwohl ich mir zuvor das hintere Kreuzband gerissen habe. Und was ich mit einem gerissenen Kreuzband geschafft habe, schaffst du mit einer lädierten Bizepssehne erst recht!»
«Danke Nöldi»
Am Tag danach erhält Forrer von Reichmuth einen Anruf: «Danke, Nöldi, deine Worte haben mir Mut gemacht. Ich bin jetzt voll motiviert, bis Pratteln weiterzukämpfen.»
Und nun könnte dieser Kampf mit der Krone belohnt werden. Der ehemalige Metzger, der mittlerweile als Physiotherapeut arbeitet, steht bei Halbzeit des Eidgenössischen mit vier Siegen da. Sein Notenblatt? Absolut beeindruckend!
Im Anschwingen bezwingt er Remo Käser (6 Kranzfestsiege), bodigt dann den letztjährigen Brünig-Schlussgang-Teilnehmer Ruedi Roschi und den amtierenden Weissenstein-Triumphator Matthias Aeschbacher. Das absolute Meisterstück liefert der 1,98-Meter-Mann schliesslich im vierten Gang mit dem Plattwurf gegen den amtierenden König Christian Stucki ab!
Es ist die eindrückliche Revanche für die Pleite, die Reichmuth beim letzten Eidgenössischen vor seiner Haustüre in Zug im Anschwingen gegen Stucki erlitten hat. «Ich habe mich 2019 beim ESAF in Zug viel zu sehr unter Druck gesetzt», erzählt der 130-Kilo-Athlet. «Das ist jetzt ganz anders. Aufgrund meiner Vorgeschichte habe ich ja auch nichts mehr zu verlieren. Deshalb bin ich jetzt sehr viel lockerer. Ich bin dankbar, dass ich überhaupt noch schwingen darf.»
Vier Kreuzbandrisse
Und das ist tatsächlich alles andere als selbstverständlich. Nachdem er zwischen 2014 und 2018 drei Kreuzbandrisse am rechten Knie erlitten hatte, ging beim Brünig-Sieger von 2019 im Frühling 2021 das linke Kreuzband flöten. Reichmuth: «Wenn ich mir zum vierten Mal das rechte Kreuzband gerissen hätte, dann hätte ich wohl tatsächlich nicht weiterschwingen können. Auch deshalb nicht, weil mir am rechten Knie für eine weitere OP die Ersatzteile ausgegangen wären.»
Doch diese Sorgen sind jetzt erst einmal vergessen. Und die Euphorie in seiner Heimat ist riesig. Die Innerschweizer dürfen auf den ersten Königstitel hoffen, seit Harry Knüsel 1986 in Sion den Thron erobert hat. Zumal mit dem Entlebucher Joel Wicki ein weiterer ISV-Athlet an dritter Stelle liegt. Dass die beiden auch als Team funktionieren, haben sie vor dem vierten Gang in eindrücklicher Manier demonstriert. Weil Reichmuth auf Platz 3 keine Zwilchhose in seiner Grösse gefunden hat, rannte Wicki zu einem anderen Ring, wo er seinem Kameraden die passende Hose auftrieb.
Reichmuth braucht Wickis Unterstützung
Wickis Unterstützung dürfte Reichmuth auch am Sonntagmorgen beanspruchen. Mit dem Thurgauer Eidgenossen hat sich «Piri» bis dato noch gar nie duelliert. Dafür kennt Wicki das Erfolgsrezept gegen den Klubkollegen von Samuel Giger ganz genau. In drei Kämpfen hat Joel den «Kugelblitz» drei Mal besiegt.
«Ich bin mir sicher, dass Joel vor diesem Gang Pirmin ein paar wertvolle Tipps geben wird», sagt Wicki-Trainer Dani Hüsler. Einen vergleichbaren Team-Spirit hatten in den letzten Jahren nur die Berner. Aber nun deutet immer mehr darauf hin, dass der Königs-Muni erstmals seit 2010 nicht im Bernbiet, sondern in einem Stall in der Innerschweiz landen wird.