194 Zentimeter gross, 123 Kilo Wasserverdrängung. Muskelberge wie ein Schwergewichtsboxer. Wenn Samuel Giger im Türrahmen steht, wird es dunkel. Der 25-jährige Ostschweizer ist der Inbegriff des modernen Schwingers: athletisch, beweglich und mit einem Griff, so kräftig, dass es den Gegnern fast das Blut abschnürt. Um im Sägemehl obenaufzuschwingen, braucht es aber mehr als das: «Man muss auch intelligent kämpfen – und das kommt erst mit der Erfahrung.»
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Am vergangenen Wochenende beweist Giger eindrücklich, was er damit meint. Am Unspunnen-Schwinget, einem Anlass von eidgenössischem Charakter, der nur alle sechs Jahre stattfindet, dominiert er die Konkurrenz von A bis Z. Zum Auftakt bodigt er Saisondominator Fabian Staudenmann innerhalb weniger Sekunden mit einer Wucht, dass selbst die Berner Alpen erzittern. In den vier nächsten Gängen bleibt er unantastbar – und im Schlussgang macht er mit dem Berner Adrian Walther kurzen Prozess. Rückblickend würdigt er seinen Gegner. «Auch Adrian hätte den Titel verdient. Er hatte als Einziger sechs Eidgenossen auf dem Notenblatt. Aber für mich ist es der grösste Sieg in der Karriere.»
Giger ist am Tag nach dem Triumph noch immer im Bernischen. Seine Freundin, Michelle von Weissenfluh (25) stammt aus Hasliberg. Und dort machen die beiden auf dem Heimweg in die gemeinsame Wohnung in Märstetten TG einen Zwischenhalt. «Sämi ist ja fast ein halber Berner», sagt Michelle augenzwinkernd. Kennengelernt haben sich die beiden 2018 am Schwägalp-Schwinget. Giger gewann das traditionelle Bergkranzfest damals schon zum zweiten Mal – im Alter von 20 Jahren notabene. Michelle, die medizinische Praxisassistentin, begleitete ihren Bruder Kilian, selber Eidgenosse und 44-facher Kranzgewinner. Die von Weissenfluhs in Hasliberg sind eine grosse Schwingerdynastie. Auch Michelles Vater Peter jun. war Kranzschwinger. Onkel Christian und Grossvater Peter sen. schafften es am Eidgenössischen einst in die Kranzränge.
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Es ist sein Umfeld, das Giger die nötige Sicherheit gibt. Der Hüne gilt als sensibel und zurückhaltend. Freundin Michelle drückt es so aus: «Sämi ist sehr ausgeglichen und besonnen.» Fakt ist auch: Samuel Giger widersetzte sich lange dem Hype um die Sägemehl-Stars. In den Hochglanzmedien war er selten zu sehen, Einblick ins Privatleben gewährte er kaum. Er hatte weder Sponsoren noch ein Management.
Am wohlsten ohne Manager
Auf einen Manager verzichtet er – als einziger Schwinger seiner Klasse – auch heute noch: «Das Administrative und die Medienarbeit macht Michelle für mich. So fühle ich mich am wohlsten.» Die Tür für Sponsoren hat er derweil aufgestossen: «Das war auch ein Reifeprozess.» Auf seiner Website prangen die Logos von sechs Partnern, der prominenteste ist Lidl, der emotionalste wohl die Ostschweizer Rück- und Tiefbaufirma Haffa aus Bürglen bei Weinfelden. Obwohl Samuel Giger vom Schwingen leben könnte – Fachleute schätzen seinen aktuellen Vermarktungswert auf 500'000 bis eine Million Franken jährlich ein –, arbeitet der gelernte Zimmermann noch immer im 40-Prozent-Pensum als Lastwagenchauffeur. «Das gibt mir den nötigen Ausgleich», sagt er.
Giger spricht sanft, wählt die Worte mit Bedacht. Das mediale Tamtam scheut er auch heute noch. Die Frage nach seinen grauen Haaren findet er «eher langweilig»: «Die sind genetisch bedingt.» Freundin Michelle sagt lachend: «Ich finde sie sehr attraktiv.» Lieber lässt Samuel Giger im Sägemehl Taten sprechen. Vor dem Triumph am Unspunnen hatte er 2021 mit dem Kilchberger bereits eins der beiden anderen Feste von eidgenössischem Charakter gewonnen. Seine Bilanz an Kranzfesten sucht ihresgleichen: 61 Mal trat er an, sagenhafte 30 Mal hat er gewonnen. 5 Mal siegte er schon am heimischen Schwägalp-Bergkranzfest. In dieser Saison hat er erstmals auf dem Brünig triumphiert – nur einen Steinwurf von Hasliberg entfernt: «Das war ganz speziell», sagt er.
Dass er diese Saison als grossen Erfolg verbuchen kann, liegt auch an einigen Anpassungen im vergangenen Winter. Er reduzierte das Arbeitspensum um 40 Prozent und wechselte den Mentaltrainer. Nun arbeitet er mit dem früheren Handballtrainer Adrian Brüngger, der auf ein Hypnoseverfahren zur mentalen Stärkung von Spitzensportlern – darunter auch Leichtathletik-Star Simon Ehammer – setzt. Giger erklärt: «Für Aussenstehende klingt das nach Trance und Schlafwandeln. Für mich ist es der Zustand der maximalen Entspannung.» Auch Gigers Fitnesscoach stammt aus dem Handball – Goran Cvetkovic, ebenfalls Trainer von Pfadi Winterthur. Die Parallelen zum Handball seien kein Zufall, so Giger: «Auch dieser Sport ist sehr physisch und verlangt Topleistungen unter grösster mentaler Anspannung.» Apropos Handball: Sämis Schwester Andrea (24) spielte als Goalie bei Brühl St. Gallen in der höchsten Liga sowie im Junioren-Nationalteam.
Der mentale Druck als Hürde
Die Änderungen waren auch eine Reaktion auf die verpassten Chancen an den eidgenössischen Festen in Zug 2019 und Pratteln 2022. Trotz seiner Jugend gehörte Giger beide Male zu den grossen Favoriten, sah aber seine Chancen früh entschwinden. Der Modellathlet ortete den mentalen Druck als grösste Hürde, die er mit dem grandiosen Sieg am Unspunnen nun wohl überwunden hat. Darüber will er indessen nicht spekulieren und auch nicht über seine Gefühle im Hinblick auf das Eidgenössische 2025 in Glarus: «Jetzt darf ich mich doch erst mal über den Unspunnen-Sieg freuen – und dann gehts in die Ferien. Das Schwingtraining beginnt früh genug wieder.»
Noch wichtiger als das sportliche Umfeld ist Giger der familiäre Support. Am Unspunnen konnte er auf seinen persönlichen Fanklub zählen: Grossvater Christian Schild (74) Mutter Hanni Giger (55) Schwester Andrea – und die Brüder Emil (34) und Christian (33). Und natürlich Freundin Michelle: Es ist vor allem sie, die ihren Freund in der Freizeit auf andere Gedanken bringt. Giger sagt: «Mit ihr kann ich das Schwingen auch mal vergessen. Wir gehen wandern oder Ski fahren – oder jassen mit Freunden.»
Der Unspunnen-Sieger schätzt die kleinen Dinge. Und es sind kleine Mosaiksteinchen, die im Sägemehl ein kolossales Ganzes ergeben. Samuel Giger gehört schon mit 25 Jahren zu den bösesten Ostschweizern der Geschichte. Der grosse Wurf am Eidgenössischen fehlt zwar noch, doch die Zeit ist auf seiner Seite. Und sowieso: Bei Michelle ist er der einzig wahre König.