«Es gibt Menschen, die leiden gerade sehr»
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Kein Schwingen im Entlebuch:«Es gibt Menschen, die leiden gerade sehr»

Ein Entlebucher Sommer ohne Schwingen
«Es gibt Menschen, die leiden gerade sehr»

Keine Region ist so schwingverrückt wie das Entlebuch. Wie sehr leiden ihre Bewohner unter dem Ausfall der Schwingsaison? Ein Besuch.
Publiziert: 14.06.2020 um 15:34 Uhr
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Aktualisiert: 11.12.2020 um 14:22 Uhr
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Joel Wicki daheim im Entlebuch. «Ich kann mir nicht vorstellen, je wegzugehen.»
Foto: STEFAN BOHRER
Emanuel Gisi (Text) und Stefan Bohrer (Fotos)

Wer hin will, wo die leidenschaftlichsten Schwingfans wohnen, muss über den Berg. Eng schlängelt sich die Strasse vom Sarnersee den Obwaldner Hang empor. Auf 1611 Metern über Meer liegt der Glaubenbielen-Pass, dahinter ist Luzerner Boden. Und vor allem: das Entlebuch. Einer der Orte, wo das Schwingen seinen Ursprung haben soll.

1798 beschreibt der Pfarrer Franz Josef Stalder in seinen «Fragmenten über das Entlebuch» die ganz spezielle «Gymnastik» der Menschen in diesem Landstrich – das Schwingen. Besonders «Sturi Chöpf» sollen hier laut einem Lied aus der Gegend zu Hause sein. Sicher gibt es bis heute keinen Platz, wo Menschen verrückter nach dem Schweizer Nationalsport sind.

Reportage kein Mehrwert

«Hier bin ich daheim, hier gehöre ich hin», sagt Joel Wicki (23). Vor zehn Monaten wäre er beinahe Schwingerkönig geworden. Jetzt steht er vor der Post von Sörenberg, seinem Heimatort. 1961 Menschen wohnen hier. Fast jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, hebt er die Hand zum Gruss. Er kennt alle Gesichter hier. Vor allem: Jeder kennt sein Gesicht. «Ich kann mir nicht vorstellen, je wegzugehen», sagt er.

Letzte Saison zählte der Ent­lebucher Schwingerverband 82 Jungschwinger, so viele wie kein anderer Klub im Land. «Hier gehen die Buben nicht in den Fussballklub, sie gehen ins Sägemehl», sagt Ex-Schwinger Ueli Banz (37). «Mit dem Schwingboom der letzten 15 Jahre ist es noch viel extremer geworden.» Vor vier Jahren musste die Schwinghalle um einen Aussenschwingplatz mit Zeltdach erweitert werden. Aber eigentlich ist es immer noch zu eng.

So eng, dass zusätzliche Aufmerksamkeit schon fast unangenehm scheint. Als BLICK beim Verein anfragt, ob man ein paar Entlebucher Jungschwinger porträtieren dürfe, gibt es einen Korb. «Wir sehen keinen Mehrwert darin, in einer Reportage vorzukommen», sagt der Medienchef. «Wir machen es für den Sport, nicht für die Aufmerksamkeit.» Ausserdem habe es vor zwei Jahren einen Artikel ge­geben, in dem Entlebucher Schwinger gegeneinander ausgespielt worden seien. Es ging um die ­ Posse zwischen Wicki und den Fankhauser-Brüdern aus Hasle. Die einen sollen beim Klub des anderen nicht am Saisonabschluss-Fest aufgetaucht sein.

Die Sturköpfe, sie vergessen und verzeihen nicht schnell. Hier weiss jeder noch, was einst in der Zeitung stand, wenn es ums Schwingen geht. Bedeutet: Am Montagmorgen werden beim Znüni in der Beiz nicht die Fussball- resultate besprochen. Es geht um die Notenblätter und um die Paarungen auf den Schwingplätzen am Wochenende. Es gibt kaum ein Tal, wo die Anhänger so fachkundig sind. «Wer hat mit wem geschwungen, wie ist es gelaufen, und warum ist es so ausgegangen? Da wird alles noch einmal nachverhandelt», sagt Christian Ineichen (42). «Es gibt manch ­einen, der am Sonntagabend die Statistiken des Tages nochmal analysiert. Einer könnte ja am nächsten Tag eine Frage stellen. Dann ist es vorteilhaft, man weiss Bescheid.»

Ineichen ist Präsident der Luzerner CVP (Wahlspruch: «Die Eiche. Aus dem Entlebuch.»), bis vor einem Jahr war er im Schwingklub-Vorstand. Mehr Mainstream geht kaum in der Gegend. Vier von sieben Kantonsratssitzen des Wahlkreises Entlebuch sind mit CVP-Leuten besetzt, dazu kommen zwei SVP- und eine FDP-Abgeordnete. Sozialdemokraten haben bei den Wahlen 2019 ihren Stimmenanteil fast auf 4,93 Prozent verdoppelt.

Oder wie Ineichen sagt: «Wir sind eine urchige Region. Der Entlebucher ist bodenständig, traditionsbewusst, aber gleichzeitig auch aufgeschlossen. Neues wird kritisch beäugt und geprüft, ob es einen Nutzen bringt.» In diesen Tagen ist er dabei, der Klub-­Chronik den letzten Schliff zu geben. Eine monströse Aufgabe: 100-jährig ist der Verein geworden. «Leider ­kommen in der Jubiläumssaison keine Schwingfeste dazu.»

Nachwuchs trifft es hart

Besonders hart trifft es die gegen 100 Nachwuchsschwinger und die 45 Aktiven des Vereins. Wer einen Vollkontakt-Kampfsport wie das Schwingen betreibt, der hat ­während der Corona-Pandemie schlechte Karten. Nur ein bisschen schwingen, das geht nicht. Ent­weder man packt zu, oder man lässt es bleiben.

Ueli Banz, während der Saison Schwing-Experte für den BLICK, Radio Central und den Zentralschweizer Sender Tele 1, sagt: «Dass am Sonntag nirgends geschwungen wird, ist für viele hier eine riesige Umstellung. Manchen Menschen fehlt im Moment ein grosser Teil ihres Lebens. Es gibt Leute, die leiden gerade sehr.»
Banz führt nach seinem Karriereende in den Gemeinden Kerns NW und Stans zwei Metzgereien und hat insgesamt 45 Mit­arbeiter unter sich. Während des Lockdowns hat er neue Seiten an sich entdeckt. «Ich habe angefangen zu fischen.»
Seit einer Woche dürfen die Entlebucher wie alle anderen Schwinger nun endlich wieder ­trainieren. Wicki ist der Beste von ihnen, und man merkt ihm an, wie froh er ist, dass er endlich wieder in die Zwilchhosen steigen darf. «Das war nicht einfach», sagt er über die letzten Monate.

«Man hat es Freunden und Kameraden angemerkt, wie sehr sie darauf brennen, loslegen zu können.» Aber er warnt auch. In warm gefärbtem Dialekt sagt er langsam: «Man darf jetzt nicht wie der Muni in den Chrieshaufen.» Heisst: Bloss nicht zu heftig loslegen. «Der Körper ist es sich nicht mehr gewöhnt, ins Sägemehl zu fallen.»

Bei seinem letzten grossen Auftritt auf dem Schwingplatz war es Wicki, der fiel. Vor zehn Monaten stand er im Schlussgang des Eid­genössischen in Zug. Er hatte ein
bärenstarkes Wochenende gezeigt. Nach sieben geschwungenen Gängen lag er vorne, war drauf und dran, sich zum zweiten Innerschweizer Schwingerkönig der Geschichte zu machen. Gegen einen hätte er noch bestehen müssen: gegen Christian Stucki, den 1,98 Meter langen und 150 Kilo schweren Koloss aus dem Berner Seeland. Doch da hatte er keine Chance.

Riesen-Empfang für Wicki

Es dauerte keine Minute, bis er auf dem Rücken landete. Stucki machte sich zum König, Wicki blieb der Titel des Erstgekrönten. Ein bittersüsses Wochenende: Auf die Niederlage erfolgte die Heimkehr ins Entlebuch. Daheim in Sörenberg erwartete ihn ein Empfang – und was für einer. «Das war gross­artig», beschreibt er. «Wir hatten Stau vor dem Dorf. Das ganze Entlebuch war in Sörenberg. Die hatten hier alle so eine Freude.» Es wurde ein Riesenfest. «Das ganze Dorf war wie eine kleine Arena am Eidgenössischen.»

Ueli Banz kennt das Gefühl. 2004 wurde er in Luzern am Eidgenös­sischen Vierter und holte sich den Kranz. Vorher hatte das Entlebuch trotz vieler solider Schwinger 30 Jahre keinen Eidgenossen mehr gestellt. Als Banz am Tag nach dem Fest vom Aufräumen auf dem Festgelände zurückkam, warteten 2000 Menschen auf ihn. «Ich hatte das völlig unterschätzt, bin vorher sogar noch kurz nach Hause gegangen. Als ich aus der Tür trat, war die Strasse links und rechts gesäumt. Das war der endgültige Beleg, wie tief verwurzelt das hier alles ist. Das ist eine Erinnerung, die vergisst du nie.»

Dass die Euphorie bei Wicki noch grösser ist, hält er für logisch. «Wicki verkörpert den Entlebucher», sagt Banz. «Er ist urchig, bodenständig, manchmal auch etwas ­hölzern. Er sagt, wenn ihm etwas nicht passt. Ein gerader Typ. Das bringt ihm viele Sympathien bei den Leuten, sie erkennen sich in ihm wieder.» Dazu passt, dass Wicki mit seinen 1,83 Metern Körpergrösse für einen Spitzenschwinger eher klein ist. Es passt zum Gefühl, das die Menschen in der Region manchmal haben: Wir kleinen Entlebucher gegen den Rest der Welt.

Mit Wicki haben sie einen gefunden, der es für sie mit denen da draussen aufnimmt. «Wenn du nicht die gleichen Voraussetzungen hast wie die anderen, musst du es eben anders machen», sagt dieser. Für den gelernten Baumaschinenmechaniker heisst das: besonders hart an Kraft und Explosivität arbeiten. Trotz Trainingspause scheint der 23-Jährige nur so vor Power zu strotzen. «Wir sind kleiner, dafür sind wir auf gewisse Dinge spezialisiert», sagt er über sich und seine Landsleute. «Es ist alles unkomplizierter hier. Wenn du einen Betrieb mit zwei oder drei Mitarbeitern hast und einen grossen Auftrag bekommst, dann geht es schnell: Hier bringt noch einer einen Kollegen mit, dort noch einer zwei Freunde – und schon hast du sechs Mann am Start. Wir tun das, was die Grossen manchmal nicht können. Wir halten zusammen.» Klar ist aber auch: «Verstecken kannst du dich hier nicht. Das merken die Leute.»

Das weiss keiner besser als Matthias Sempach (34). Mit dem Sieger des Eidgenössischen in Burgdorf 2013 wohnt zum ersten Mal ein echter Schwingerkönig im Tal. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass Sempach aus dem Emmental zugewandert ist. Vor anderthalb Jahren hat der Berner in der Gemeinde Entlebuch zusammen mit seiner Frau Heidi den Hof ihrer
Eltern übernommen.

Stolz auf Schwingerkönig

«Ich habe mich hier sofort willkommen gefühlt», sagt er. «Hier sind Traditionen immer noch wichtig. Das Schwingen, aber auch das Jodeln. Mehrere bekannte Komponisten kommen von hier. Und man hört, dass die Bewohner es schön finden, dass hier nun ein Schwingerkönig wohnt.» Manch einer fährt ein bisschen langsamer, wenn er an Sempachs Hof vorbeikommt, um zu gucken, wie es beim König so aussieht. «Die wollen ­wissen, was ich hier mache, das ist doch normal», findet Sempach. «Ich erkundige mich auch, wenn mich etwas interessiert.»

Interessieren tut ihn auch der Schwingklub im Tal. Zweimal hat er im letzten Jahr bereits Trainings bei den Entlebuchern geleitet. Nur wegen des coronabedingten Sportstopps sind seither keine weiteren Einheiten dazugekommen. «Ich helfe auch in Zukunft gern. Aber ich werde mich sicher nicht in den Vordergrund drängen», sagt der König.

Es dürfte sich für die Entle­bucher lohnen, ihm zuzuhören. «Dass die Region so schwingverrückt ist, könnte für manchen Sportler auch ein Hemmnis sein. Wenn einer jung und gut ist, wird ihm vielleicht früher als anderswo auf die Schultern geklopft. Die Allgegenwärtigkeit des Sports ist schön, mir gefällt das sehr. Aber als Junger ­bekommst du das manchmal in Form von Druck zu spüren. Da muss jeder seinen Weg finden. ­Wicki ist ein gutes Beispiel dafür, wie es gehen kann.»

Mit Wicki werden sie auch nächstes Jahr fiebern, wenn es endlich wieder um alles geht im Sägemehl. Im September 2021 stehen mit dem Kilchberg-Schwinget und dem Jubiläums-Fest des Verbands gleich zwei Anlässe mit eidgenössischem Charakter auf dem Programm. 2022 bekommt er beim Eidgenössischen in Pratteln die nächste Chance, den Königs-Titel doch noch zu holen.

Im Verein wird dann jemand ganz besonders gefordert sein. «Ich war eine Weile dafür verantwortlich, die Ticket-Kontingente für die Grossanlässe zu verteilen», erzählt Politiker Ineichen und lacht laut. «Ich kann Ihnen sagen: So schnell hatte ich noch nie 2000 neue Freunde. Jeder versucht, irgendwie an ein Ticket für ein Eidgenössisches oder ein Kilchberg-Schwinget zu kommen. Und das wird in der Zwischenzeit nicht weniger
geworden sein.

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