Es ist eine aussergewöhnliche Pointe des Schicksals: Christian Stucki erleidet seine jüngste Verletzung nicht im Zweikampf mit einem bösen Kontrahenten, sondern unter einem harmlos anmutenden Wasserhahn.
Der Reihe nach. Es ist am Freitagnachmittag, als die Berner Schwinger in ihrem ESAF Vorbereitungs-Camp auf der kleinen Scheidegg ihre letzte Einheit im Sägemehl absolvieren. Der amtierende Schwingerkönig bereitet seinen Übungsleitern bei dieser Gelegenheit viel Freude.
Die im April angerissenen Schultersehnen scheinen Stucki nicht im Geringsten zu handicapieren. Und weil auch der im Juli erlittene Muskelfaserriss verheilt ist, schwingt der Berner Seeländer im Trainings-Duell mit Kilchberg-Sieger Fabian Staudenmann richtig stark. Der 1,98 Meter-Gigant scheint also punktgenau für die Titelverteidigung in Schwung zu kommen.
Unter der Dusche schiessts in den Rücken
Aber eben, der wiedergewonnene Optimismus hält beim 37-Jährigen nicht lange an. Unter der Dusche verzieht Stucki plötzlich aufgrund starker Schmerzen sein Gesicht. «Nachdem ich eine blöde Bewegung gemacht habe, ist es mir richtig heftig in den Rücken eingeschossen», erklärt der 132-fache Kranzgewinner.
Den nächsten Hammer kassiert der zweifache Familienvater am Samstagmorgen im Berner Sonnenhofspital – nach dem MRI steht fest, dass Stucki unter einem Bandscheibenvorfall zwischen dem vierten und dem fünften Lendenwirbel leidet. Das führt zu einem besonders heftigen Druck auf den Ischias-Nerv.
Stucki glaubt an 50:50-Chance
Ist damit für den 43-fachen Kranzfestsieger das Eidgenössische bereits zwei Wochen vor dem Anschwingen in Pratteln gelaufen? Der schwer angeschlagene Überschwinger macht sich und seinen vielen Fans weiterhin Hoffnung: «Ich sehe das Licht am Ende des Tunnels, ich glaube daran, dass es für Pratteln reichen kann.»
Sicher ist allerdings, dass der 150-Kilo-Brocken vor dem Saisonhöhepunkt keinen wettkampfmässigen Belastungs-Test wird absolvieren können. Für das letzte Rangfest vor dem ESAF auf dem Bözingenberg musste der «Big Foot» mit Schuhgrösse 51 gestern logischerweise Forfait erklären.
Nach dem unerfreulichen Befund in der Berner Klinik erscheint der volksnahe König dennoch auf dem Bieler Hausberg und macht seine Anhänger mit unzähligen Autogrammen und Selfies glücklich. Wie er seine Chancen auf einen Einsatz am Eidgenössischen beziffere, wird Stucki gefragt? «Die Chancen stehen 50 zu 50», glaubt der Schweizer Sportler des Jahres 2019.
«Noch nie so heftig unter Druck»
Stellt sich noch eine Frage: Ist es Zufall, dass sich der Mann mit Bärenkräften innerhalb von vier Monaten drei Verletzungen erleidet? Sein Trainer Tommy Herzog stellt eine besondere These auf: «Ich habe Chrigel in all den Jahren im Training noch nie so fokussiert erlebt, wie in den letzten Monaten. Er hat sich selber aber auch noch nie so heftig unter Druck gesetzt wie jetzt. Deshalb könnte es sein, dass dieser Bandscheibenvorfall auch das Ergebnis einer psychischen Überbelastung ist.»
Stucki ist sich bewusst, dass er seine Gesundheit für den zweiten Königs-Titel auf eine harte Probe stellt. «Eigentlich muss ich ja nach meinem Sieg vor drei Jahren in Zug niemandem mehr Rechenschaft ablegen. Aber der Ehrgeiz lässt mir keine Ruhe.»
Stucki ist sich aber auch bewusst, dass übertriebener Ehrgeiz im im Zusammenhang mit dem Bandscheibenvorfall sogar zu einem Leben im Rollstuhl führen könnte. «Ich muss deshalb mit meinen Ärzten alles gut abwägen und dann irgendwann entscheiden, wie es weitergeht.»
Einer, der an ein Happy End in diesem königlichen Drama glaubt, ist Christian Lanz, seines Zeichens technischer Leiter im Berner Seeländer Schwingerverband. «Chrigu hat in den letzten Monaten derart gut trainiert, dass er noch kräftiger ist als vor drei Jahren in Zug. Und weil er fürs Schwingen ein derart gutes Gespür hat, traue ich im zu, dass er in Pratteln trotz der fehlenden Wettkampf-Praxis noch einmal reüssieren kann.»