Auf einen Blick
Nach 15 Sekunden ruft Urs Freuler: «Kann ich endlich wieder ausatmen?» Und hat damit die Lacher auf seiner Seite. Für das Shooting mit dem Blick-Fotografen zwängt sich der zehnfache Rad-Weltmeister in sein Regenbogen-Trikot von 1983. Klar, dass sich darin jedes Kilo zu viel abzeichnet. Wobei: Manch ein 65-Jähriger wäre um Freulers Figur froh. «Offiziell bin ich jetzt pensioniert. Aber das Velo lässt mich nicht los. Ich mache nach wie vor 6000 Kilometer jährlich», erzählt er. Mit einer Einschränkung: «Ich fahre nur noch Elektro-Rennvelo!»
Genau das tut Freuler auch an diesem warmen Sommerabend auf der legendären Rennbahn in Zürich-Oerlikon. «Das ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass ich hier wieder meine Runden drehe», sagt er. Dazu muss man wissen: Die denkmalgeschützte Velo-Arena unweit des Hallenstadions ist für Freuler wie eine zweite Heimat. Auch jetzt noch. «Hier habe ich so viel erlebt, so viel gewonnen. Es ist sehr schön, da zu sein.»
Tatsächlich kennt Freuler, das wird schnell deutlich, fast jeden, der sich an diesem Dienstag auf die traditionellen Abendrennen vorbereitet. «Zumindest jene, die weisses Haar oder gar kein Haar mehr auf dem Kopf haben», meint er lachend.
Mallorca statt Oerlikon
1912 wurde die Rennbahn in Oerlikon eröffnet. Sie ist die älteste Sportanlage der Schweiz, auf der regelmässig Wettkämpfe stattfinden. Bei der bevorstehenden Weltmeisterschaft (21. bis 29. September) wird sie erstmals überhaupt bei Titelkämpfen auf der Strasse befahren – beim Start zum Zeitfahren der Männer am 22. September. Die Streckenführungen von 1923 und 1946, als die WM ebenfalls in der Limmatstadt gastierte, machten einen grossen Bogen um das Beton-Oval.
«Ich kann bei der WM leider nicht dabei sein, weil ich selbst mit Gästen auf Mallorca auf dem Velo unterwegs sein werde», so Freuler. Dennoch: Er wird beim Zeitfahren der Männer, dem ersten Schweizer WM-Highlight, vor dem TV sitzen. «Wer weiss, vielleicht erwischen Stefan Küng und Stefan Bissegger ja einen super Tag und holen eine Medaille. Ich würde es mir wünschen, denn sie sind harte Arbeiter und hätten es verdient.»
Er würde gerne Medaillen eintauschen
Freuler weiss, wie süss Triumphe in Zürich-Oerlikon schmecken – 1983 wurde er hier Doppel-Weltmeister (Punktefahren und Keirin). Er war auf der Rennbahn zudem bei vier Etappeneinkünften der Tour de Suisse der Erste, keiner konnte mit dem Super-Sprinter aus Bilten GL mithalten. «Wenn ich hier hineinfuhr – sei es mit dem Feld oder einer Gruppe – war es um meine Gegner geschehen. Ich kannte schliesslich jeden der 333,33 Meter auf dieser Bahn in- und auswendig.»
Nur allzu gerne würde Freuler zwei oder drei seiner zehn WM-Siege auf der Bahn für einen auf der Strasse eintauschen. Das Problem: Die WM-Strassenrennen waren zu hart für ihn. Darum nahm er auch lediglich zwei Mal teil: 1982 in Goodwood (Gb) wurde er 19., drei Jahre später in Giavera del Montello (It) gab er auf. «Hatte ein Rennen einen etwas längeren Anstieg, war ich verloren», sagt er.
Vor Paris–Roubaix ass er ein Steak
Alleine war Freuler damit nicht – im Gegensatz zu heute waren Sprinter damals genau und fast nur das: Sprinter. Der Mann mit dem berühmten Schnauz ist sich sicher, dass er in der Form von früher heute kein Rennen mehr gewinnen würde. «Der Radsport hat sich extrem entwickelt. Wenn ich nur schon daran denke, was wir damals zum Zmorge gegessen haben …»
Was denn? Freuler denkt an eine Ausgabe von Paris–Roubaix, der berühmten Kopfsteinpflaster-Hölle in Frankreich, zurück. «Um 6 Uhr morgens gabs Café complet und eine Stunde später Reis mit einem grossen Steak. Das muss man sich mal vorstellen, wie blöd das war!»
Aus aktueller Perspektive hätten sie in den 80ern bei der Ernährung alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, so Freuler. «Aber wir wussten es damals halt nicht besser.» Gewonnen hat er in seiner Karriere trotzdem oft: unter anderem 15 Mal beim Giro d’Italia (dazu holte er 1984 das Punktetrikot), 9 Mal bei der Tour de Suisse und ein Mal bei der Tour de France. Nimmt man Bahn und Strasse zusammen, kommt Freuler auf 134 Profisiege.
Er hat mit seiner Frau ein 3G-Motto
«Es war eine gute Zeit, aber sie ist vorbei», sagt Freuler. Er vergisst die Vergangenheit nicht, im Gegenteil. Freuler erzählt gerne, ausführlich und immer mit Humor. Vor kurzem hat er seinen Radshop in Altendorf SZ für immer geschlossen, so der Pensionär. «Man kann mich anrufen, ich habe einen kleinen Laden in Näfels und helfe immer gerne aus», sagt er.
Freuler freut sich darauf, mehr Zeit für sich zu haben. Und für seine Ehefrau Mareile, mit der er seit 36 Jahren verheiratet ist. «Sie ist meine treibende Kraft. Wir fahren Velo nach dem 3G-Motto: Genuss, gemütlich, gemeinsam. Und das praktisch jeden Tag», meint er augenzwinkernd.
Freulers Herz macht nicht mehr alles mit
Schlimm findet es Feuler nicht, dass er mit einem Elektro-Rennvelo unterwegs sei. «Erstens unterstützt mich das Motörchen nur bis 25 km/h, danach muss ich also immer noch viel trampen. Und so komme ich auch die Hügel auf Mallorca gut hoch. Ich verstehe nicht, warum gewisse Leute E-Rennräder verteufeln – sie machen Spass.»
Bei Freuler hat das E-Rennrad auch einen ernsten Hintergrund: Er unterzog sich in den letzten Jahren dreimal einem Eingriff am Herzen. «Es ist offenbar zu gross und stolpert manchmal», sagt er. Die Lösung war eine Katheterablation – dabei wurde Herzgewebe verödet. «Es geht mir gut, allerdings kann mein Puls im Nullkommanichts 130 auf 200 gehen, wenn ich forciere. Das ist dann gefährlich. Mit meinem Elektro-Rennvelo laufe ich keine Gefahr, dass mir dies nicht passiert.»
Die Uhr von Ferdy Kübler läuft immer noch
Bleibt die Frage: Wie wird er die WM in Zürich verfolgen? «Ich werde nicht jedes Rennen von A bis Z schauen, da ich mit Gästen auf Mallorca unterwegs sein werde. Ich will ihnen die schönsten Ecken dieser wunderbaren Insel zeigen und es gemütlich haben. Aber bei den wichtigsten Rennen bin ich dabei – am liebsten mit einem Gläschen Rotwein. Ich werde den Schweizerinnen und Schweizern jedenfalls fest die Daumen drücken.»
Zurück auf die Rennbahn. Irgendwann schaut Freuler auf seine Armbanduhr, die er zu seinem ersten WM-Triumph vor 43 Jahren von Ferdy Kübler geschenkt erhielt. «Sie läuft nach wie vor bestens, ich hatte noch nie Probleme. Sensationell.» Dann meint er: «Jetzt muss ich aber schleunigst Mareile abholen, wir gehen zu einem Italiener essen.»
Freuler verabschiedet sich, läuft los und bleibt dennoch bei jedem, der ihn anspricht, für einen Schwatz stehen. Es gibt halt doch immer etwas zu erzählen.