Wie Eis und Feuer! Tudor-Stars Hirschi (26) und Alaphilippe (32) empfangen Blick in Spanien
«Marc? Er ist wie eine schlafende Schlange!»

Radsport-Asse unter sich: Marc Hirschi und Julian Alaphilippe sprechen im Blick-Interview über ihre neue Rolle bei Tudor, vergangene Rivalitäten und die tragischen Todesfälle von Gino Mäder und Muriel Furrer.
Publiziert: 10:08 Uhr
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Aktualisiert: 11:27 Uhr
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An dieses Bild kann man sich ab sofort gewöhnen: Rad-Ass Marc Hirschi mit dem Tudor-Logo auf der Brust.
Foto: Sven Thomann

Auf einen Blick

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Es ist Anfang Januar, die Sonne wärmt die Luft auf 18 Grad, im Garten des Hotels Serawa hängen reife Früchte am Orangenbaum. Der «Media Day» des Schweizer Teams Tudor in Moraira an der Costa Blanca hat etwa 30 Journalisten aus der ganzen Welt angelockt. Für eine Equipe, die nicht der World Tour angehört, also der obersten Rad-Kategorie, ist das eine Menge. Der Grund? Streng genommen sind es zwei: Marc Hirschi (26) und Julian Alaphilippe (32). Fürs Gespräch mit Blick haben sie sich auf eine Steintreppe gesetzt.

Blick: Marc, im Radrennsport geht es auch verbal manchmal hart zur Sache. Welches Wort auf Schweizerdeutsch sollte Julian unbedingt lernen?
Marc Hirschi: Gopfertami!
Julian Alaphilippe: Was heisst das?
Hirschi: Es ist nicht sehr schön.
Alaphilippe: Also wie Scheisse? (Lacht.)
Hirschi: Genau, aber nicht ganz so derb. Verwende es trotzdem nicht zu oft (schmunzelt).
Alaphilippe: Keine Angst. Im Peloton wird oft mit harten Bandagen gekämpft. Dennoch finde ich, dass der gegenseitige Respekt etwas vom Wichtigsten überhaupt ist. Leider denken nicht alle so.
Hirschi: Ich bin überzeugt, dass man mit dieser Einstellung langfristig mehr Erfolg hat. Denn: Das Feld vergisst nicht. Beleidigst du beispielsweise einen Fahrer oder ein Team, kann die Retourkutsche schon im nächsten Rennen folgen – sie fahren dir hinterher, klemmen dich ein oder sonst was. Ich will auch auf dem Velo anständig sein.

Julian, haben Sie einen Satz auf Französisch, den Sie Marc ans Herz legen?
Alaphilippe: Etwas Schlimmes?

Muss nicht sein.
Alaphilippe: Ça va, mon pote! Es bedeutet: Es geht mir gut, mein Freund. Das gefällt mir, ich sage es oft.

Hirschi und Alaphilippe sind die neuen – man könnte auch sagen die ersten – Stars im Team Tudor. Ihre Verpflichtung im August 2024 löste einen kleinen Rad-Wirbelsturm aus. «Marc und Loulou heben uns auf ein neues Level», sagt Team-Besitzer Fabian Cancellara stolz. Tatsächlich greift Tudor für die beiden tief in die Tasche. Beide verdienen wohl mehr als eine Million Franken – etwas anderes wäre angesichts ihrer Klasse überraschend. Gleichzeitig haben Hirschi und Alaphilippe schwierige Jahre hinter sich. Sie standen oft im Schatten von Giganten – Hirschi von Tadej Pogacar (26, Sln) und Alaphilippe von Remco Evenepoel (24, Be). Nun treten sie ins Rampenlicht, sind endlich wieder Leader. Aber geht das überhaupt? Beide sind ähnliche Fahrertypen – feingliedrig, explosiv, tempohart und ihrem Instinkt folgend.

Zu viele Köche verderben den Brei. Wie gross ist diese Gefahr bei Tudor?
Hirschi: Wir haben ein Luxusproblem.
Alaphilippe: Das sehe ich auch so. Aber es gibt genügend Rennen im Kalender für uns zwei.

Die Ardennen-Klassiker Ende April sind vom Profil her allerdings Ihnen beiden wie auf den Leib geschneidert.
Alaphilippe: Wir sind gescheit genug und haben die Reife, um keinen Blödsinn zu machen. Obwohl wir ähnliche Qualitäten haben, wird es keinen Streit geben. Die Ziele des Teams sind wichtiger. Ich würde mich freuen, wenn Marc gewinnt.
Hirschi: Es ist immer besser, zu zweit anstatt alleine in einem Finale zu sein. So können wir verschiedene Karten spielen.

Erinnern Sie sich an den 4. Oktober 2020?
Alaphilippe: (Atmet lang aus.) Ich würde dieses Datum lieber aus meinem Gedächtnis streichen.

Bei Lüttich–Bastogne–Lüttich waren Sie beide in einer Sechsergruppe. Im Sprint verliessen Sie, Julian, die Ideallinie und verhinderten vielleicht Marcs grössten Sieg. Am Ende wurden Sie disqualifiziert.
Alaphilippe: Eine Woche vor diesem Rennen wurde ich Weltmeister, und Marc holte Bronze. Dann gewann Marc die Flèche-Wallonne. Wir waren super drauf und motiviert. Leider war ich am Ende des Rennens so müde, dass ich den klaren Blick verlor. Ich fühlte mich danach schuldig – richtig schlecht. Es tat mir sehr leid für Marc und ich habe mir geschworen, nie mehr so einen Fehler zu machen. Zum Glück ist mir das nie mehr passiert.

Marc hat Sie damals trotzdem nicht beschuldigt.
Alaphilippe: Das sagt viel über ihn aus.

Auch im dritten Jahr seit der Gründung geht Tudor als Pro-Team in die neue Saison. «Wir wollen am Ende des Jahres eines der zwei besten Pro Teams sein», kündigt Cancellara an. Damit hätte man den World-Tour-Kalender für 2026 garantiert, also alle grossen Rennen, inklusive der Tour de France. Noch ist es nicht so weit. Heisst: Tudor ist bei den grössten Rennen auf Wildcards angewiesen. «Das macht die Planung kompliziert», gibt CEO Raphael Meyer zu. Beworben habe man sich für die meisten grossen Events, erstmals strebt man eine komplette Klassiker-Saison, inklusive der Flandernrundfahrt, Paris–Roubaix und Liège–Bastogne–Liège an. Und auch die Tour de France, das grösste Etappenrennen der Welt, ist ein Ziel. Dafür hat man aufgestockt: Neu gibt es 30 Profifahrer, dazu investiert man in ein Nachwuchsteam mit weiteren 15 Fahrern.

Marc, Ihr Stern ging im Sommer 2020 mit einem Etappensieg bei der Tour de France auf. Zuletzt durften sie bei UAE aber gar keine grosse Rundfahrt mehr bestreiten. Wie enttäuscht waren Sie?
Hirschi: Gar nicht. Bei den Rundfahrten wäre ich immer im Schatten der Grossen gestanden und hätte für sie fahren müssen. So konnte ich bei kleineren Rennen starten. Das hat ganz gut geklappt.

Sie gewannen acht Rennen, so viele wie noch nie in einem Jahr.
Hirschi: Ich hatte bei UAE vier tolle Jahre und nach wie vor viele Freunde. Trotzdem war die Zeit reif für einen Wechsel. Ich bin jetzt 26, und meine besten Jahre kommen noch. Ich will wissen, wie weit ich es bringen kann. Mein Ziel ist es, die Besten der Welt herauszufordern.

Und die Tour de France?
Hirschi: Ich würde es lieben, wieder dabei zu sein und eine Etappe zu gewinnen.

Cancellara ist der letzte Schweizer, die die Gesamtwertung der Tour de Suisse gewinnen konnte. Werden Sie sein Nachfolger?
Hirschi: Vielleicht eines Tages. Aber im Moment konzentriere ich mich auf Eintagesrennen und Etappen.

Welches Rennen würden Sie 2025 am liebsten gewinnen?
Hirschi: Die WM in Ruanda, ganz klar. Weltmeister zu werden, ist das Grösste, das es gibt. Allerdings weiss ich nicht, ob das realistisch ist. Die Strecke ist extrem hart: Sie hat etwa 5000 Höhenmeter, man fährt auf 1600 Meter über Meer, und es gibt auch noch Kopfsteinpflaster.

Sie gewannen in Ihrer Karriere sechs Tour-Etappen und trugen das gelbe Ledertrikot 18 Tage lang, Julian. Ärgert es Sie, nicht zu wissen, ob Sie bei Ihrer Rundfahrt wieder antreten dürfen?
Alaphilippe: Es machts nicht einfach. Ich hoffe, wir dürfen überall antreten. Gleichzeitig fokussiere ich mich auf das, was ich beeinflussen kann.

Ihr Wechsel in die Schweiz sehen einige als Abstieg.
Alaphilippe: Das empfinde ich anders. Man wollte mich bei Tudor unbedingt, das habe ich gespürt. Man spürt die Philosophie und Identität des Teams. Ich bin ein Fahrer, der mit viel Herz fährt. In vielen Teams bedeuten Zahlen alles – es geht immer nur um Wattwerte und anderes. Hier ist das auch wichtig, aber der Faktor Mensch wird nicht vernachlässigt. Ich wollte Teil dieser Familie sein und bin super motiviert für dieses Abenteuer.

Sie haben für drei Jahre unterschrieben und sind Familienvater. Ist das Ihr letzter Vertrag als Fahrer?
Alaphilippe: Vielleicht. Aber so weit denke ich nicht voraus.

Es ist Nachmittag geworden in Moraira. Der Medien-Marathon für das Team Tudor geht weiter. Dennoch ist die Stimmung locker. Das ändert kurzfristig, als ein Journalist in der PK-Runde nach Gino Mäder (1997–2023) fragt – er erlag im Sommer 2023 nach einem Sturz bei der Tour de Suisse seinen Verletzungen. Später wurde bekannt, dass er bereits bei Tudor unterschrieben hatte. «Gino sollte jetzt eigentlich hier bei uns sitzen», sagt Meyer. «Ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich nur daran denke», ergänzt er. Man wolle auch für ihn fahren, so Meyer.

Mit Muriel Furrer gab es nur ein Jahr nach Gino Mäder erneut einen tödlichen Unfall bei einem Velorennen – sie wurde nur 18 Jahre alt. Wie sehr haben Sie diese tragischen Unfälle beschäftigt?
Hirschi: Gino und ich waren Freunde, wir kannten uns von klein auf. Es war sehr schwierig. Ich hatte danach mit Leuten Kontakt, die Ähnliches erlebt haben – das tat gut. Als im letzten Sommer Muriel kurz vor unserem Rennen bei der WM verunglückte, konnte ich es kaum glauben. Ich habe irgendwie funktioniert und versucht, die Emotionen erst später an mich heranzulassen.

Hat sich Ihre Einstellung zum Sport in den letzten zwei Jahren verändert?
Hirschi: Sicher, ja. Mir wurde bewusst, wie schnell es gehen kann. Vielleicht trifft es das nächste Mal ja mich? Diesen Gedanken habe ich immer wieder. Und ich kann nicht viel dagegen tun.
Alaphilippe: Es muss bei der Sicherheit auf jeden Fall etwas getan werden. Ich weiss nicht, was, aber mit der Fahrervereinigung CPA haben wir ein Organ, das mit der UCI nach möglichen Verbesserungen sucht.

Marc, haben Sie konkrete Ideen?
Hirschi: Eine Obergrenze bei den Gängen einzuführen, könnte Sinn machen. Dann wäre es irgendwann nicht mehr möglich, in Abfahrten weiter zu beschleunigen. Vielleicht kann man auch die Pneus sicherer machen – heute gibt es einige, bei denen das Velo schwierig zu kontrollieren ist, wenn sie explodieren.
Alaphilippe: Wir werden immer professioneller und immer schneller. Wenn wir mit Regeln, die dies eindämmen, etwas für die Sicherheit tun können, sollten wir es tun.
Hirschi: Die Sicherheit sollte immer an oberster Stelle stehen – nicht das Spektakel.

Während einer kurzen Pause gönnt sich Hirschi etwas vom geschnittenen Jamón Serrano, dem typischen Schinken der Region. Zeit, um etwas über Fussball zu fachsimpeln. «Wenn YB einen guten Start in die Rückrunde hat, ist noch viel möglich», meint Hirschi. Der ehemalige Junior des FC Bolligen wuchs nur zehn Velo-Minuten vom Wankdorf entfernt auf – zuerst ging er mit seinem Grossvater, dann mit seinem Vater an die Spiele. «Weil ich oft weg bin von zu Hause, muss ich alles rund um YB online verfolgen. Ich bin überzeugt, dass es einen spannenden Schlussspurt geben wird», so Hirschi.

Sie waren zuletzt mit Matteo Trentin, einem weiteren Teamkollegen, bei einem Sponsorentermin Los Angeles. Wie war es?
Hirschi: Sehr cool. Wir konnten uns näher kennenlernen. Im Fall von Julian kann ich sagen: Sein inneres Feuer ist wirklich ansteckend.

Ist das der Grund, warum Sie so viele Fans in Frankreich lieben, Julian?
Alaphilippe: Was ich mache, mache ich mit meinem Herzen. Ob im Privaten oder als Sportler – da gibt es keinen Unterschied. Ich gebe mein Bestes, helfe gerne und versuche, auch auf dem Velo kein Arschloch zu sein. Die Leute sehen und schätzen das, denke ich.
Hirschi: Manche Fahrer sind in den Medien oder in der Öffentlichkeit ganz anders als privat. Julian nicht, er ist immer gleich.

Sie sind viel introvertierter, Marc.
Hirschi: Wir sind andere Typen, klar. Aber das ist auch gut so. Julian kann eine Gruppe führen, Spass reinbringen. Auch wenn es einmal regnet oder ich müde bin, ist er gut drauf.

Julian, wie würden Sie Marc beschreiben?
Alaphilippe: Für mich ist Marc wie eine schlafende Schlange – derzeit noch ruhig, wir sind ja erst im Januar. Aber im richtigen Moment wird sie zubeissen! (Lacht.)

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