Der Sport ruht! Aber nicht bei uns. Um Ihnen die Zeit zu überbrücken, blicken wir in unserer BLICK-Serie zurück auf grosse Schweizer Sport-Momente. Diesmal: Fabian Cancellaras erster Sieg am 9. April 2006 bei Paris-Roubaix.
BLICK: Fabian Cancellara, war der 9. April 2006 der schönste Tag ihres Lebens?
Fabian Cancellara: Bis dahin auf jeden Fall – zumindest sportlich.
Sie gewannen mit Paris-Roubaix ein Monument des Radsports.
Dadurch gingen für mich viele Türen auf. Dieses Rennen ist so geschichtsträchtig, schlicht einzigartig. Das Holpern und Schütteln bei der Fahrt über die Kopfsteinpflaster, die Stürze, die Dramatik... Viele wussten damals schon vor dem Start von meinem Talent. Aber in der «Hölle des Nordens» dann tatsächlich zu gewinnen, ist nochmals etwas anderes.
Die Sportzeitung L’Equipe schrieb tags darauf im Editorial: «Das kann nur die Königin der Classiques bieten: Die Entdeckung eines riesigen Schweizer Talents». Wie nahmen Sie das wahr?
Ich war 25 Jahre alt und der Triumph hievte mich tatsächlich in den Reigen der Top-Fahrer. Und das auf einen Schlag. Nach diesem Tag hatte ich mehr Macht, war meist der Chef im Team und durfte mir meine Rennen praktisch aussuchen.
Bei ihrem ersten Ritt über die Pavés vier Jahre davor gaben Sie auf. Weshalb?
Ich erinnere mich, wie ich damals in den berühmt-berüchtigten Wald von Aarenberg fuhr. Es schüttelte mich komplett durch. Und ich war alleine – aber nicht vorne, sondern weit hinten. Und es fehlten noch 100 km bis zum Ziel. In diesem Moment habe ich mir gesagt: «Das kann es nicht sein, das bist nicht du.» Kurz darauf stieg ich vom Rad.
Liebe auf den ersten Blick war Paris-Roubaix also nicht, oder?
Oh, doch! Ich war ja selbst schuld an der Situation und nicht die Strecke oder meine Gegner. Ich hatte das Rennen oft im TV gesehen, bei meiner Premiere aber die richtige Einstellung nicht gefunden. Ich nahm alles zu locker, brachte meinen inneren Schweinehund nicht an den Tag und dachte: «Das wird schon!» Ich hatte mich getäuscht.
Sehnten Sie sich nach Revanche?
Ich lechzte danach. Diese Niederlage weckte etwas in mir. Ich hatte den Kampf gegen die Pflastersteine verloren, doch das sollte mir nicht noch einmal passieren. Ich wurde zu einem Gladiator.
Ein Jahr später wurden Sie Vierter, mussten aber Kritik einstecken.
Zurecht. Ich war in der Spitzengruppe. Wir fuhren ins Velodrome von Roubaix ein, doch ich liess mich abkochen. Das war aber auch normal, denn ich war noch sehr jung.
2006 mussten Sie nichts befürchten, Sie fuhren alleine ins Stadion und gewannen.
Es war gigantisch. Als Fussballer spielst du immer in Stadien. Als Rad-Profi nicht – ausser in Roubaix. Ich hatte 15 Kilometer vor dem Ziel attackiert und durfte solo in die Arena einfahren. Ich war im Tunnel, voll konzentriert – aber auch kaputt. Dann hörte ich den Applaus und den Lärm der Zuschauer. Es war wie eine Welle, sie erdrückte mich beinahe.
Am Abend vor dem Rennen schrieb Ihnen der langjährige Rad-Reporter Hans-Peter Hildbrand eine SMS. Erinnern Sie sich?
Wie wenn es gestern gewesen wäre. Er schrieb über den Pflasterstein, den der Sieger als Trophäe erhält: «Er gehört Dir. Nimm ihn heim. Morgen ist Dein Tag.» Das berührte mich. Denn Hans-Peter schrieb nicht als Journalist, sondern als Privatperson. Er hatte ein Gefühl, dass es klappen würde. Er glaubte an mich.
Spürten Sie dadurch noch mehr Druck?
Im Gegenteil. Ich hatte noch mehr Selbstvertrauen. Wissen Sie, um Paris-Roubaix zu gewinnen braucht es alles: Können, Selbstvertrauen, Tagesform, gutes Material, die richtige Taktik, den nötigen Instinkt, das Quäntchen Glück und wohl noch mehr. Ich bin überzeugt, dass die Worte von Hans-Peter ein Puzzlestein des Erfolgs waren.
Es kam im Rennen auch zu einem Skandal...
Weil eine geschlossene Bahnschranke meine Verfolger ausbremste. Einige ignorierten sie und fuhren über die Gleise – sie wurden später disqualifiziert.
Der Belgier Tom Boonen, damals der grosse Star, wurde am grünen Tisch Zweiter. Hätte er Sie ohne das Malheur eingeholt?
Ich denke nicht. An diesem Tag konnte mich niemand aufhalten, ich flog über die Strasse. Wichtig für mich war, dass Boonen selbst sagte: «Fabian war der Beste, er verdient diesen Sieg.» So gab es keine weiteren Diskussionen. Das war grosse Klasse von ihm.
Klasse war am Abend auch Party, oder?
Auf jeden Fall! Normalerweise fährt oder fliegt nach einem Rennen jeder nach Hause. Mein ganzes Team verzichtete aber darauf. Wir riefen das Hotel in Belgien an, wo wir zuvor übernachtet hatten. Und buchten das Restaurant und die Zimmer nochmals. Wir fuhren den ganzen Weg zurück und feierten bis drei Uhr in der Früh – auch mit dem Hotelpersonal. Es war legendär.
Sie hatten eine besondere Taktik, um nicht betrunken zu werden.
Stimmt (lacht)! Ich schaute, dass mein Glas immer voll war. So konnte niemand nachschenken. Ehrlich gesagt war es mir aber wichtig, dass alle anderen immer zu trinken hatten – jeder hatte einen Anteil an meinem Erfolg. Übrigens sind die Spuren der damaligen Feier immer noch nicht ganz verwischt...
Wie meinen Sie das?
Als ich damals eine Champagner-Flasche öffnete, knallte der Kork mit voller Wucht an die Decke. Die Delle ist noch heute zu sehen!
Unter einem unvergessenen Feier-Bild schrieb BLICK damals: «Fabian Cancellara paffte an der grossen Feier sogar eine Zigarre.» Sie waren an diesem Abend eben doch kein Klosterschüler!
Nein, das sicher nicht. Aber ich muss mich wehren: Das war gar keine Zigarre, sondern das Waffel-Röhrli des Glacés. Vorne hatte es Schlagrahm dran – es sieht einfach aus wie eine Zigarre.
Einverstanden. Zurück zum Sport. Sie gewannen nach diesem Erfolg noch zweimal in der «Hölle des Nordens», dazu die Tour de Suisse, Sie wurden vier Mal Weltmeister und zweimal Olympiasieger. War ihre Karriere ein Märchen?
Nein, es gab auch viele Rückschläge. Paris-Roubaix veränderte mein Leben im positiven, aber auch im negativen Sinn.
Inwiefern?
Plötzlich war ich überall bekannt, alle wollten etwas von mir. Die Medien verlangten nach Homestories, alle klopften mir auf die Schulter. Anfangs fand ich dies cool, es war lustig. Es ging immer etwas: Ich heiratete im gleichen Jahr, wurde Vater und holte WM-Gold. Doch im Winter war ich ausgebrannt, brauchte Luft. Später, als die Resultate nicht kamen, prügelte man dann öffentlich auf mich ein. Ich zog mich zurück und wurde gegenüber einigen Medien kurzsilbig.
Es kam zu Doping-Verdächtigungen.
Ohne jegliche Grundlage. Nach dem Olympiasieg 2008 futterte ich mir im Herbst 10 Kilo an. Ich war trotz des Erfolgs frustriert und fragte mich: Warum muss ich mich für etwas rechtfertigen, das nicht der Wahrheit entspricht? Ich wurde teilweise wie ein Verbrecher behandelt.
2010 gab es Gerüchte um einen im Rahmen eingebauten Elektro-Motor.
Zu Beginn musste ich noch lachen. Das war schliesslich völlig verrückt. Aber dann verging mir das Schmunzeln, als die Fragen nicht nachliessen. Ich konnte nichts tun, um dieses Hirngespinst aus der Welt zu schaffen.
Sie gewannen Paris-Roubaix auch 2010 und 2013. Wo stehen die drei je 15 Kilo schweren Pflasterstein-Trophäen heute?
Sie sind hinter einem Thermoglas in unserer kleinen Sauna ausgestellt. Diese Idee hatte meine Frau Stefanie vor einigen Jahren und ich fand sie genial. Das heisst nun aber nicht, dass ich stets an meine früheren Erfolge denke. In unserem Haus sieht man kaum Trophäen oder Trikots – sie sind alle im Keller. Ich habe heute einen anderen Alltag und blicke nach vorne.
Sie haben zwei Töchter: Giuliana (13) und Elina (7). Wissen Sie von jenem Tag im April 2006, der Ihr Leben auf den Kopf stellte?
Giuliana schon. Aber sie kann mit Radsport nichts anfangen (lacht). Mit Elina schaue ich dagegen ab und zu Radrennen im Fernsehen. Aber entscheidend ist nicht, was ich gemacht habe. Entscheidend ist, dass sie ihren eigenen Weg im Leben finden und gehen.