Ende April lebten 17'912 anerkannte Flüchtlinge aus Eritrea in der Schweiz. Es ist die grösste Gruppe – bei weitem. Gleichzeitig gibt es nur einen einzigen Fahrer aus dem Land im Nordosten Afrikas an der Tour de Suisse: Merhawi Kudus (25) vom kasachischen Team Astana. «Ich wusste, dass einige Menschen aus Eritrea hier leben. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es so viele sind», zeigt sich Kudus überrascht. Er selbst fühle sich privilegiert, sein Land in der Schweiz zu vertreten. «Das ist speziell, denn die Tour de Suisse ist eine grosse Rundfahrt.»
Nun könnte man meinen, der Kletterspezialist – er wiegt bei 1.73 m nur 58 Kilo – sei ein Rad-Exot. Das stimmt nicht ganz. Es gibt immerhin neun Athleten aus Eritrea, die professionell oder halb-professionell Rad fahren. Zwei in der höchsten Kategorie, der World Tour: Kudus (Team Astana) und Amanuel Ghebreigzabhier (Team Dimension Data).
Alle anderen fahren in der zweithöchsten (Pro-Continental Tour) oder dritthöchsten Stufe (Continental Tour). Und es gibt durchaus eritreische Talente, die nachstossen, erklärt Kudus. «In meinem Land ist der Radsport eine der wichtigsten Sportarten überhaupt. Wir haben jeden Sonntag Rennen, das grösste in der Hauptstadt Asmara.» Trotzdem brauchen die jungen Fahrer oft Glück und Geld, um es nach oben zu schaffen. Beides war bei Kudus der Fall. «Wir waren nicht arm, mussten nicht kämpfen wie andere. Ich würde sagen, meine Familie war durchschnittlich wohlhabend.»
Zum Regime in der Heimat und den vielen Flüchtlingen will Kudus nichts sagen. Er weiss, das Thema ist heikel. Zumal er zuhause längst ein Idol ist. Kudus ist bewusst: Je pointierter er sich äussert, desto höhere Wellen schlägt es. Und so sagt er nur: «Ich bin stolz, mein Land zu vertreten.» Gleichzeitig ist er selbst der Schweiz dankbar. Vor allem dem Centre Mondial du Cyclisme in Aigle VD, wo er einst in die Rad-Lehre ging. Es wird vom Radweltverband UCI betrieben und bietet Fahrern aus kleineren Rad-Ländern die Chance, sich zu entwickeln – vor allem in Bezug auf Taktik und Verhalten im Peloton. Denn da haben afrikanische Fahrer oft die grössten Defizite.
Normalerweise lebt Kudus im toskanischen Städtchen Lucca (It). Hat er mal drei Wochen oder mehr frei, fliegt er zurück nach Eritrea. Auf 2300 Metern über Meer findet er gute Bedingungen fürs Training vor – auch wenn die Strassen deutlich schlechter sind als in Europa. Das war schon zu seinen Anfängen so, als er mit Kollegen nach der Schule kleine Rennen veranstaltete. «Ein Riesenspass», wie er ergänzt. Und welchen Traum hat er heute? «Ich will eine Etappe der Tour de France gewinnen!»