BLICK: Rolf Järmann, wird heute weniger gedopt als noch vor 20 Jahren?
Rolf Järmann: Davon bin ich überzeugt. Der Radsport ist sauberer geworden – aber nicht gerechter.
Wie meinen Sie das?
In den 90er Jahren dopten eigentlich alle. Auch ich. Es war unmöglich, Rennen nur mit Wasser und Brot zu gewinnen. So schlimm es tönen mag: Damals hatte wenigstens jeder die gleichen Voraussetzungen.
Das ist heute nicht mehr so?
Einerseits nicht, weil viele sauber sind. Anderseits sind die Kontrollmechanismen derart gut, dass man viel Geld braucht, um versteckt zu dopen und alles gut zu vertuschen. Zu meiner Zeit reichten 4000 Franken, um eine Jahresration EPO zu besorgen. Und wir spritzten, wann immer wir wollten.
Tönt fast so, als wäre es damals besser gewesen...
Um Gottes Willen! Der Kampf gegen Doping lohnt sich und ich bin froh, dass die Hemmschwelle zu dopen heute viel grösser ist als damals. Zu meiner Zeit vergass man beinahe, dass man etwas Verbotenes machte.
Sie wehrten sich zu Beginn gegen Doping.
Genau. Der Teamarzt gab mir zwar EPO. Aber ich spritzte es nie, warf alles fort. Das war 1994. Ich wollte allen beweisen, dass es auch ohne Doping geht.
Warum zogen Sie es nicht durch?
Mich hat nie jemand gezwungen, EPO zu nehmen. Aber als ich merkte, dass ich sauber keine Chance auf den Sieg habe, wurde ich schwach und begann zu dopen. Hätte ich es nicht getan, wäre meine Karriere vorbei gewesen.
Sie erklärten einmal, dass sie auch aus finanziellen Gründen weiter machten.
Es war der einfachere Weg, als mein Leben auf den Kopf zu stellen. Ich hatte Familie, ein Haus und hätte nicht gewusst, was ich sonst hätte tun sollen.
Hatten Sie auch ein schlechtes Gewissen?
Ja. Aber ein derart moralischer Mensch war ich nicht, um mich zu wehren und mit Doping aufzuhören.
Dennoch hatten Sie Mühe, sich in der Apotheke EPO zu holen...
Verrückt, aber genau das war damals möglich. Mein Puls schoss in die Höhe, als ich die Apotheke betrat. Waren andere Leute da, kaufte ich einfach Lutschtabletten und ging wieder. Klar, die Situation belastete mich. Aber ich habe alles in mich hineingefressen.
Warum erzählten Sie ihrer Frau nie, dass sie dopten?
Ich wollte meine Familie schützen. Sie hätten immer Angst um mich gehabt – das wollte ich vermeiden. Vor dem Tour-Skandal 1998 wusste niemand, was wirklich abging. Nur die Fahrer, die Teams und die Ärzte. Alle anderen hielt man raus. Es war besser so.
Warum hatten das Festina-Erdbeben keine reinigende Wirkung?
Am Anfang der Saison 1999 war ich überzeugt: Fast alle sind nun sauber. Ich hatte mich getäuscht, man war einfach vorsichtiger geworden. Angst hatten die Fahrer dabei weniger vor den Dopingjägern, dafür mehr vor der Polizei. Im Gefängnis zu landen, wäre ein Albtraum gewesen.
Trotzdem wurden in den folgenden Jahren viele erwischt: Ullrich, Pantani, Armstrong, Winokourow...
Man hat 1998 eine grosse Chance verpasst. Damals hätte man bei Null anfangen können. Dafür hätte man aber allen Fahrern Straffreiheit garantieren sollen, damit alle auspacken. So aber wurde viel unter den Tisch gekehrt.
Sie hörten auf zu dopen, oder?
Ja. Es tönt seltsam, aber der Festina-Skandal freute mich wirklich und ich dachte, dass ich mit perfektem Training wieder grosse Rennen würde gewinnen können.
Mitte 1999 traten Sie zurück...
Während der Tour de Suisse merkte ich, dass etwas nicht stimmen kann. Und zwar schon auf der ersten Etappe nach Lausanne. Ich war super drauf, hatte tolle Beine – und wurde trotzdem abgehängt. Es wurde mir klar: Will ich wieder gewinnen, muss ich erneut anfangen zu dopen. Innert 24 Stunden gab ich meinen Rücktritt bekannt.
Warum haben Sie nicht einfach wieder mit Doping angefangen?
Ich wollte nicht mehr, hatte es satt. Und ich war 33 Jahre alt, hätte innert drei bis vier Jahren sowieso aufgehört. Zudem hatte ich Angst um meine Gesundheit. Denn um top zu sein, hätte ich die Dosierung erhöhen müssen. Das war mir zu heiss.
Im Jahr 2000 beichteten Sie im BLICK alles.
Eine gute Entscheidung. Nie mehr musste ich lügen. Und erstaunlicherweise liessen mich die Journalisten auch in Ruhe.
Wie meinen Sie das?
Ich denke, die meisten waren überfordert mit der Situation. Und schliesslich hatte ich ja alles erzählt. Es gab nur noch einen Auftritt in der Rundschau.
Am Samstag startete die Tour de France. Muss man davon ausgehen, dass jeder Etappensieger auch gedopt ist?
Nein. Heute kann man Rennen auch ohne Doping gewinnen. Das ist ein wichtiges Zeichen an die jungen Fahrer, die nach oben drücken.
Ist es auch möglich, die ganze Tour ohne Doping zu gewinnen?
Die Wahrscheinlichkeit ist zumindest da. Zu meiner Zeit wäre das unmöglich gewesen.
Wer wird in drei Wochen zuoberst auf dem Podest sein?
Hoffentlich ein angriffiger Fahrer. Am liebsten nicht Froome.
Warum nicht?
Wenn er ein bisschen Rückgrat gehabt hätte, hätte er pausiert, bis die Ergebnisse der Untersuchung da gewesen wären. Salbutamol ist nicht einfach in jedem Sirup. Das geht für mich nicht auf, wenn er sagt, dass er krank sei und dieses Asthma-Mittel brauche, dann aber einfach weiterfährt.
Sie sind heute selbstständig und arbeiten im Bereich Web-Applikationen. Haben Sie mit Radsport abgeschlossen?
Ich liebe den Radsport noch immer, klebe aber nicht bei jedem Rennen vor dem TV. Einen grossen Traum habe ich aber noch...
Welchen?
Ich will mit meinem Wohnmobil eines Tages an je drei Tour-Etappen in den Alpen und Pyrenäen reisen. Den Fahrern eine Cola-Büchse hinhalten und mit anderen Rad-Fans bis spät in die Nacht über das Rennen plaudern.
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So lief der Festina-Skandal
8. Juli 1998, Die Zollkontrolle: Willy Voet (53) ist auf dem Weg nach Calais. Der belgische Masseur will die Fähre zum TdF-Start nach Dublin erreichen. Um 05.40 Uhr versucht er, auf dem «Schmuggelweg» beim französischen Dorf Neuville nach Belgien zu fahren. Eine Grenzpatrouille stoppt den persönlichen Betreuer der Festina-Fahrer Richard Virenque (Fr) und Laurent Dufaux (Sz). Voets offizieller Festina-Materialwagen ist voll mit Dopingprodukten: 234 EPO-Flakons, 80 Ampullen Wachstumshormon und 160 Einheiten Testosteron. Die Mittel hat er in der Schweiz und in Deutschland gekauft. Auf seiner Fahrt von Lyon durch die Schweiz, Deutschland und Belgien sind ihm die Fahnder gefolgt. Es gilt als sicher, dass die Dopingfahnder einem Hinweis aus der Veloszene folgten. Im Juni wurde damals Festina-Fahrer Christophe Moreau (Fr) mit Anabolika erwischt, sein Masseur entlassen. Hat sich dieser mit einem Tipp gerächt?
10. Juli, Die erste Lüge: Festina-Teamchef Bruno Roussel lügt, Voet sei nicht für die Tour vorgesehen. Voet kommt in U-Haft, die Anklage: Schmuggel und Mitführen verbotener Substanzen. Zum Sport: Boardman (Gb) gewinnt den Prolog (5,6 km). Die Festina-Profis glänzen mit einem phänomenalen Start: 5. Moreau (Fr), 7. Zülle, 8. Dufaux (beide Sz), 14. Virenque, 16. Brochard (beide Fr)!
12. Juli, Auch Zülle lügt: «Zülle droht Ausschluss», titelt der SonntagsBlick. Der St. Galler will deswegen nicht mehr mit uns reden – beruhigt sich aber. Masseur Voet erklärt: «Die Ampullen waren für den Eigenbedarf bestimmt.» Zülle sagt: «Voet kenne ich kaum. Ich bin sauber.»
14. Juli, Das erste Geständnis: Voet gibt zu Protokoll, auf Anordnung von Festina gehandelt zu haben. Und: Es sei nicht seine erste Mission gewesen. Die Direktion dementiert. Festina-Arzt und Voet-Freund Eric Rijckaert erklärt, den Fahrern nie Doping ausgehändigt zu haben.
15. Juli, Chefs werden verhaftet: Roussel und Dr. Rijckaert werden verhaftet. Der Arzt schwört beim Leben seiner Kinder, den Fahrern nie unerlaubte Mittel verabreicht zu haben! Materialwagen und Bus von Festina werden durchsucht. Ebenfalls die Hotelzimmer der Masseure. Die Fahnder stossen auf Medikamente, Flaschen und Spritzen.
16. Juli, Noch schweigen die Chefs: Der internationale Radsportverband (UCI) sperrt Roussel als Sportlichen Leiter. TdF-Direktor Jean-Marie Leblanc sagt: «Ein Ausschluss von Festina kommt im Moment nicht infrage.» Die Untersuchungsbeamten vermelden, dass sich Roussel und Rijckaert nicht kooperativ verhalten.
17. Juli, Der Ausschluss: Roussel und Rijckaert brechen ihr Schweigen. Die Einnahme der verbotenen Substanzen sei mit Direktion, Ärzten, Betreuern und Fahrern abgesprochen. Seit 1994 sei ein teaminternes Dopingsystem aufgebaut worden. Voet war Transporteur und Lagerist. Tour-Direktor Leblanc (54) kündigt um 22.50 Uhr den Ausschluss des Festina-Teams an. Radprofi Virenque will das Aus nicht akzeptieren. Er ist ein Nationalheld – einer, der von Bernadette Chirac empfangen wird, der Frau des Staatspräsidenten.
18. Juli, Virenque weint: Leblanc trifft sich mit den Festina-Profis und bleibt hart. Virenque weint, stürzt sich in die Arme des Tour-Direktors: «Jean-Marie, mach das nächste Jahr eine Tour de France für mich und ich werde sie gewinnen.»
23. Juli, Festina-Profis werden verhört: Die neun Fahrer werden in Lyon zum Verhör vorübergehend festgenommen. Sieben geben ihr Doping zu. Nur Virenque und Hervé erklären, möglicherweise ohne ihr Wissen gedopt worden zu sein. Zülle wird wie ein Schwerverbrecher behandelt. Man nimmt ihm die Brille weg. Er ist praktisch blind. Nach der Nacht im Gefängnis kommen er und Laurent Dufaux frei. Armin Meier wird bereits um Mitternacht entlassen.
25. Juli, Zülle gesteht: Zermürbt nach einer Nacht im Gefängnis gibt Alex Zülle (30) zu: «Ja, ich habe gedopt.» Kurz vor der Abreise in die Ferien spricht er mit BLICK über seine Lügen und sein Doping: «Meine Lügen tun mir jetzt leid … Mit EPO kann man aus keinem Esel ein Rennpferd machen. Die Polizei in Lyon hatte das Gefühl, wer EPO nimmt, der fährt nicht, der fliegt durch die Gegend. Talent, Training und seriöser Lebenswandel – ohne das gehts nicht.»
29. Juli, Der Streik: Bei einer Razzia in Albertville werden in Abfallsäcken des TVM-Teams Ampullen mit Doping gefunden. Teammitglieder kommen in Untersuchungshaft. Die Radprofis an der Tour wehren sich gegen diese Behandlung, streiken. Das Rennen wird demonstrativ verbummelt, der Sieg symbolisch TVM überlassen. Die Teams von ONCE, Banesto (beide Sp) und Riso Scotti (It) verlassen die Tour.
30. Juli, Der Apotheker wird verhaftet: Die spanischen Teams Kelme und Vitalico geben auf. Der Träger des Bergpreis-Trikots, der Italiener Rodolfo Massi, wird als erster Rennfahrer aus einem Rennen heraus verhaftet. In seinem Koffer werden Kortikoide, Anabolika und Wachstumshormone gefunden. Massi behauptet, die Mittel seien nur zum persönlichen Bedarf. Er wird aber als Dealer angesehen. Im Feld nennen sie ihn «den Apotheker».
31. Juli, Auch die Holländer fliegen aus: Das holländische TVM-Team flüchtet beim Etappenstart La Chaux-de-Fonds aus der Tour. «Physische und psychische Erschöpfung», lautete die offizielle Begründung. Teamchef Cees Priem (Ho) und Mannschaftsarzt Andrej Michailow (Russ) sind schon über eine Woche in Haft.
2. August, Ende der 85. Tour: Die Skandaltour ist zu Ende. In Dublin sind 189 Fahrer gestartet, 96 erreichen Paris. Die Tour gewinnt Marco Pantani (28, It). Als einziger Schweizer beendet Roli Meier als Siebter diese Tour. 2001 ist Meier der erste Rennfahrer, der mittels EPO-Nachweises im Urin überführt und rechtskräftig verurteilt wird.
Folgen des Festina-Skandals: Im Juli 2013 veröffentlicht der französische Senat Ergebnisse einer nachträglichen Untersuchung. Sowohl in den Proben von Sieger Pantani als auch von Jan Ullrich (2.) wird EPO nachgewiesen. Da keine B-Proben zur Kontrolle vorliegen, gibts keine sportrechtlichen Konsequenzen. Dank des Festina-Skandals wird 1999 die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gegründet, der biologische Pass wird eingeführt. Ab 2005 müssen Profis täglich ihren Standort angeben, um unangekündigte Dopingkontrollen zu ermöglichen. (hph)