Radrennfahrerin Marlen Reusser
«Kein Verständnis für jammernde Sportler»

Für den Traum von Olympia hat Marlen Reusser (28) ihren Ärztekittel zur Seite gelegt. Mit der Diagnose Absage kann die Radrennfahrerin trotzdem leben.
Publiziert: 26.03.2020 um 10:34 Uhr
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Aktualisiert: 30.03.2020 um 19:24 Uhr
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Fährt seit diesem Jahr für Bigla-Katjuscha: Marlen Reusser (l.).
Foto: Getty Images
Daniel Leu

Hätten Sie mit 27 Jahren Ihren sicheren Job gekündigt, um doch noch Profi-Sportlerin zu werden? Wären Sie deshalb mit 27 wieder bei Ihren Eltern eingezogen? Genau das hat Marlen Reusser vor einem Jahr getan. Mit dem grossen Ziel Olympia 2020. Ein Ziel, das sich wegen der Corona-Krise und damit der Absage gar nicht erreichen lässt.

Hadert die Radrennfahrerin nun mit dem Schicksal? «Nein», stellt sie gleich zu Beginn des Gesprächs klar, «für Sportler, die jetzt jammern, fehlt mir das Verständnis. Die Gesundheit ist das Wichtigste. Da ist es doch egal, wenn Wettkämpfe gestrichen werden.»

Dabei hätte Reusser in Tokio durchaus zu den Schweizer Medaillenkandidaten gezählt. Es wäre der Höhepunkt einer aussergewöhnlichen Karriere gewesen. Aufgewachsen ist sie auf einem Bauernhof in Hindelbank BE. Erst mit 22 tritt sie dem lokalen Radverein bei. Mit 25 löst sie ihre erste Rennlizenz und wird 2017 auf Anhieb Schweizermeisterin im Zeitfahren.

Lähmungserscheinungen nach Horrorunfall

Doch bereits ein Jahr später ist beinahe alles wieder vorbei. Sie stürzt während eines Rennens schwer. Die Verletzungen sind gravierend. Bruch des fünften Lendenwirbels und des Beckens. Sie spürt ihre Füsse nicht mehr. Hat Lähmungserscheinungen. «Zum Glück habe ich das selber nicht so schlimm erlebt», sagt sie heute, «ich wurde gleich mit starken Schmerzmitteln entlastet. Erst im Nachhinein dachte ich: ‹Das hätte in die Hosen gehen können.›»

In jener Zeit ist Reusser noch immer Amateursportlerin und arbeitet Teilzeit als Assistenzärztin. Im Februar 2019 kündigt sie die Stelle und setzt voll aufs Radrennfahren. «Um mit der Weltspitze mithalten zu können, musste das sein. Beides nebeneinander ging nicht mehr.» Brauchte eine solche Entscheidung Mut? «Nein! Klappt es nicht mit dem Sport, würde ich sehr schnell wieder einen guten Job finden.»

Für den Nationalrat kandidiert

Ihr Einsatz zahlt sich aus. Im letzten Juni gewinnt sie an den European Games in Minsk Gold. Und seit dieser Saison erhält sie von ihrem neuen Team Bigla-Katusha gar einen Lohn. «Wenn man bescheiden lebt, kommt man damit über die Runden», erklärt Reusser, die im vergangenen Herbst auch noch für die Jungen Grünen für den Nationalrat kandidiert hat.

Reusser scheint mit sich im Reinen zu sein. Die Olympia-Absage wird sie deshalb nicht aus der Bahn werfen.

Bleibt noch eine Frage zu klären: Wie ist es, mit 27 wieder zu Hause einzuziehen? Zusammen mit ihrem Freund Badreddin Wais, einem syrischen Radrennfahrer, der als Flüchtling in die Schweiz kam. «Es ist super, denn es ist so schön hier auf dem Land.»

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