«Wir sind die Versuchskaninchen der Industrie»
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Radprofi Schär über sein Rad:«Wir sind die Versuchskaninchen der Industrie»

Radprofi Michael Schär erklärt sein Rad
«Wir sind die Versuchskaninchen der Industrie»

Michi Schär (33) fährt seine zehnte Tour de France. Aus diesem Anlass nimmt er sein Rennrad auseinander. Er zeigt 10 Komponenten, die sich stark gewandelt haben.
Publiziert: 30.08.2020 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2020 um 19:29 Uhr
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Michi Schär nimmt für BLICK sein Rennrad auseinander.
Foto: Christian Merz
Mathias Germann

Er ist die Zuverlässigkeit in ­Person: Michael Schär (33). Seit 15 Jahren bolzt er über die Strassen dieser Welt, stets loyal zu seinen Chefs und mit helfenden Tipps für junge Teamkollegen. ­Aktuell ist er einer der vier Schweizer, die an der Tour de France fahren – neben Stefan Küng, Sebastien Reichenbach und Marc Hirschi.

Mit 10 Teilnahmen hat er mehr Tour-Teilnahmen auf dem Buckel als alle anderen zusammen. «Und vielleicht kommen ja noch einige dazu», sagt er. Schär hat nach der angekündigten Auflösung seines polnischen Rennstalls CCC bereits einen Dreijahresvertrag bei AG2R unterschrieben.

Er ist jedoch nicht nur ein ­perfekter Teamplayer und bärenstarker Rouleur, sondern auch ein Technik-Freak. Vor Beginn der Tour empfängt er SonntagsBlick bei sich zuhause in Nottwil LU für ein ­spezielles Shooting. Zwei Stunden brauchen er und sein Vater ­Roland (er war auch Profi), um alle ­Komponenten fein säuberlich auszulegen. «So etwas habe ich noch nie gemacht», sagt Schär. «Es wäre cool, wenn ihr mir das Bild später schicken könntet», ergänzt er. Kein Problem, versteht sich.

Doch zuerst erklärt Schär, ­welche zehn Rad-Komponenten sich während seiner langen Karriere am krassesten verändert haben. Dabei sagt er: «Wir Profi-Fahrer sind die Versuchskaninchen der Rad-­Industrie. Das meine ich überhaupt nicht abwertend. Im Gegenteil, schliesslich sind wir stets froh um neues, besseres Material. Letztlich testen wir, was später in die Läden für die Hobbyfahrer in den Verkauf kommt. Ich finde das extrem ­spannend!» Und dann legt Schär los …


1. Powermeter «In diesem Gerät wird aufgezeichnet, wie viel Kraft wir auf die Pedale bringen. Jedes Training, jedes Rennen – ­alles wird gespeichert und später analysiert. Durch diese Wattzahlen ergibt sich die Schwelle, bei welcher der ­Körper anfängt, Laktat zu bilden. Diese Schwelle sollte man vor allem bei Anstiegen nicht überschreiten, sonst bricht man ein.»

2. GPS-Computer. «Darauf sind mittlerweile alle Routen ab­gespeichert, die wir fahren. Es ist wie ein Navi im Auto. Diese ­Entwicklung brachte deutlich mehr Sicherheit – auf Abfahrten wissen wir schon vorher, wie die unübersichtliche Stelle im Wald bald aussehen wird oder wie stark eine Haarnadelkurve tatsächlich zumacht.»

3. Tubeless-Reifen «Wir benutzen nicht mehr Schläuche im Reifen, sondern «tubeless». Drinnen hat es eine Dichtmilch, welche ­kleinere Löcher sofort und automatisch schliesst. Heute fahren wir mit weniger Luftdruck und mit breiteren Pneus als früher – 28 statt 19 Millimeter.»

4. Scheibenbremsen «Keiner fährt mehr mit Felgenbremsen – ausser bei Zeitfahren. Mit der Scheibenbremse können wir viel später und härter Bremsen, sie sind viel sicherer. Zwar gibt es Kontroversen, weil sie wegen ihren scharfen Kanten extreme Schnittwunden verursachen können, doch ich habe das noch nie erlebt.»

5. Elektrische Schaltung «Sie funktioniert einwandfrei und ist vor allem bei Regen und Kälte viel besser als die alte, ­mechanische Schaltung. Man muss sie nur mit den Fingern antippen und schon wechselt der Gang, perfekt.»

6. Gel und Powerriegel «Es ist schon extrem: Heute hat jedes Team eigene Ernährungsberater und Köche. Das gab es früher nicht. So wie auch nicht die Gels und Riegel. Ich erinnere mich, wie ich zu Beginn meiner Karriere während der Rennen meist nur harte Panini und Bananen ass. Heute ist alles viel isotonischer und flüssiger – dass muss der Magen erst mal ertragen. Jeder Fahrer weiss genau, wie viele Kalorien er pro Stunde aufnehmen soll. Einige haben sich für diesen Zweck auf dem Rad-Computer eine Erinnerung eingestellt – sobald es piepst, essen sie.»

7. Lenker «Er hat eine etwas ­andere Form als früher, ansonsten fand hier aber keine Revolution statt. Ich erinnere mich dennoch an eine Tour, wo mir in Paris auf der Champs-Elysees der Unterlenker brach. Ich stürzte zwar nicht, hatte aber einen Schrecken fürs Leben.»

8. Schuhe «Im Vergleich zu früher sind die Schuhe zwar leichter und haben Karbonsohlen, bequemer sind sie aber nicht. Ich habe Grösse 46,5 und meine Schuhe ­kosten 350 Franken.»

9. Sattel «Er ist deutlich kürzer als früher. Das hat einen spezifischen Grund: Man arbeitet heute mehr mit den Gesässmuskeln, mit der Rumpfkraft. Übrigens: Ich schmiere mir vor jeder Ausfahrt ­Bepanthen ein, um keinen Wolf – also Schürfwunden – zu holen.»

10. Rahmen «Hier fand eine ­extreme Entwicklung statt. Heute gibt es «intelligente» Rahmen. Was das heisst? Es gibt darin Karbonteilchen, welche die Schläge von unten absorbieren und nicht an den ­Fahrer weitergeben. Das ist sehr ­angenehm. Gleichzeitig bleiben diese Teilchen zum Beispiel bei Sprints sehr stabil, richtiggehend hart. Das ist wegen den Kräften von der Seite, die dann auf das Rad ­einwirken, wichtig.»

Michael Schärs Rennrad kostet etwa 12 000 Franken. Es wiegt 7,4 Kilo – das vorgeschriebene ­Mindestgewicht in der World Tour sind 6,8 Kilo. «Ich vertraue meinem Rad voll und ganz. Letztlich ist es aber wie mit dem Auto: Wenn wir wie die Irren fahren, ist es trotzdem gefährlich», so Schär.

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