Als Stefan Bissegger 13 Jahre alt ist, muss er sich einige Sprüche anhören. Warum? Sein Velo ist veraltet. Es besteht aus einem Alu-Rahmen, während seine Gegner mit modernen Karbon-Maschinen unterwegs sind. Und auch seine Rad-Kleider sind nicht besonders gut. «Einmal schüttete es wie aus Kübeln. Weil Stefan keine eigene Regenjacke hatte, gab ich ihm meine. Sie war natürlich viel zu gross und blähte sich im Rennen auf wie ein Luftballon», erinnert sich Vater Bruno. «Im Gegensatz zu anderen Familien konnten wir Stefan keine super Ausrüstung bieten», ergänzt er.
Zehn Jahre sind seither vergangen. SonntagsBlick trifft Stefan und Bruno Bissegger um 9 Uhr morgens in der Bäckerei Mohn in Sulgen TG. Bruno hat gerade eine Nachtschicht hinter sich, ist aber erstaunlich fit. «Ich mache das seit vielen Jahren und habe mich daran gewöhnt. Vier Stunden Schlaf pro Tag reichen mir. Das war früher super, denn so konnte ich am Tag viel mit meinen Kindern unternehmen», sagt er.
Für Stefan war dies wichtiger als alles andere. «Mein Vater fuhr mich kreuz und quer übers Land, damit ich Velorennen fahren konnte. Er unterstützte mich, machte aber nie Druck. Klar, war ich etwas neidisch auf die Sachen der anderen. Aber eigentlich war es mir egal, dass wir wenig Geld hatten und ich kein super Velo hatte. Rückblickend war es vielleicht sogar besser so – es weckte meinen Ehrgeiz noch mehr.» Sein Fazit: «Ich wurde als Kind ausgelacht. Aber ich habe es allen gezeigt!»
Bissegger war zweimal krank
Heute ist Bissegger nicht nur Rad-Profi, sondern einer der besten Fahrer der Welt. 2021 schlug er beim Zeitfahren von Paris–Nizza Stars wie Primoz Roglic (29, Slo) oder Rohan Dennis (33, Aus), dazu gewann er im Regen von Gstaad eine Tour-de-Suisse-Etappe. Und im Februar dieses Jahres gewann er das Zeitfahren der UAE Tour. Nach dem Super-Start erwischte es «Muni» Bissegger – wie er wegen seines bulligen Körperbaus genannt wird – bei Paris–Nizza und der Vorbereitung auf die Flandern-Rundfahrt: Er war gleich zweimal länger krank.
Und dann? Genau: Wie bei so vielen wurde Bissegger während der Tour de Suisse positiv auf Corona getestet. Obwohl er keine Symptome hatte, musste er die Rundfahrt verlassen. Spätestens am Montag will sein Team Education First das Aufgebot für die Tour de France bekanntgeben – dafür müssen alle, auch Bissegger, einen negativen PCR-Test abgeben.
«Stefan war ein Zappelphilipp»
Zurück nach Sulgen. Beim Zöpfeln zeigt Bissegger, dass er auch in der Backstube Talent hat. «Aber wenn ich auf die Hände meines Vaters schaue, wird mir fast schwindlig. Es ist unglaublich, wie schnell und geschickt er ist», sagt er. Bruno: «Als Stefan noch ein Kind war, besuchte er mich an den Wochenenden in der Bäckerei und half auch aus. Er war ein echter Zappelphilipp, darum passte das gut. Dass er zu Beginn nur selten Velorennen gewann, machte mir übrigens nichts aus. Ich sagte ihm vor dem Rennen nur: Ich will Einsatz sehen, das Resultat ist mir egal! Und Stefan enttäuschte mich nie.»
Trotz des Materialnachteils in der Jugend: Bissegger hielt je länger je mehr mit den anderen mit. Unter den Fittichen seines grossen Förderers Marcello Albasini entwickelte er sich immer schneller. Es folgten die ersten Siege. Schliesslich schnitt Bissegger bei einem Talenttag von Swiss Cycling so gut ab, dass er gleich ins Nationalkader aufgenommen wurde. Seine anderen Hobbys, das Unihockey und vor allem den Fussball – Bissegger spielte beim FC Weinfelden im Mittelfeld – schob er beiseite. «Als ich mit 16 meine Lehre als Velo-Mech begann, war mir definitiv klar: Ich will Profi werden. Und ich investierte fortan jeden Rappen, den ich verdiente, in meine Rad-Ausrüstung.»
Bärlauch-Baguette
Bisseggers grosses Ziel des Sommers ist das Zeitfahren in Kopenhagen am kommenden Freitag. Dafür ordnet er alles unter. Einfach wird es nicht, denn er hätte liebend gerne bei der Schweizer Meisterschaft am letzten Donnerstag seine Zeitfahr-Form getestet. Das war nicht möglich, weil Bissegger noch immer Corona-positiv war.
Vielleicht geht für die Tour de France aber ja trotzdem alles auf. Und wer weiss: Sollte Bissegger tatsächlich gewinnen, gönnt er sich drei Wochen später vielleicht sein Lieblingsbrot. «Die Bäckerei, wo mein Vater arbeitet, ist berühmt für seine leckeren Zöpfe. Mein Favorit ist allerdings die Bärlauch-Baguette!»
Vater Bruno verspricht: «Ich werde Stef jedes Brot backen, das er will. Egal ob er gewinnt oder nicht. Ich bin so oder unglaublich stolz auf ihn.»