Rad-Profi Schär nach Scarponis Unfall-Tod
«Manchmal habe ich wirklich Angst»

Der Tod von Michele Scarponi († 37) wirft Fragen auf. Während Profi Michael Schär (30) seine Konsequenzen zieht, appelliert Teamkolle Silvan Dillier an die Vernunft. Denn: «Jeder stirbt nur einmal!»
Publiziert: 07.05.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 09:55 Uhr
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Michael Schär unterwegs im Strassenverkehr.
Foto: www.steineggerpix.com
Mathias Germann und Hans-Peter Hildbrand

Die Nachricht erschüttert die Rad-Szene: Michele Scarponi, zweifacher Vater und Leader der Astana-Mannschaft, stirbt vor gut einer Woche im Training. Ein LKW-Fahrer übersieht den 37-jährigen Italiener, erwischt ihn voll. Scarponi hat keine Chance, er stirbt noch auf der Unfallstelle.

Fabio Baldato, der nur wenige Hundert Meter neben Scarponis Haus lebt, ist noch heute fassungslos. Der sportliche Leiter des Teams BMC sagt aber auch: «Es war Pech, nichts anderes.» Tatsächlich kann man dem LKW-Fahrer keine Absicht unterstellen, laut eigener Aussage wurde er von der tief stehenden Sonne so geblendet, dass er Scarponi nicht kommen sah. Gut möglich.

Trotzdem bleibt die erschütternde Zahl: Seit dem Jahr 2000 verunglückten bereits 32 Rad-Profis während des Trainings. Im Schnitt sind das fast zwei pro Jahr. Fast immer nach Kollisionen mit motorisierten Fahrzeugen.
Für den Schweizer Velo-Profi Michael Schär (30) ist klar: «Radfahren ist in den letzten Jahren gefährlicher geworden. Es gibt mehr Verkehr, mehr Hindernisse und die Leute regen sich schneller auf.»

Der 198-cm-Mann aus Sursee LU bringt ein Beispiel: Zwölf Jahre lang absolvierte er mit seinem Vater ein spezielles Training. Papi vorne auf dem Töff, er dahinter im Windschatten auf dem Rad. Immer die gleiche Runde. «Um Geschwindigkeit in die Beine zu kriegen», so Schär. Damit haben sie mittlerweile aufgehört: «Es geht nicht mehr. Es ist zu riskant geworden.»

Aber belegt die schweizweite Statistik Schärs subjektive Einschätzung? Durchaus. Zwar sank gemäss dem Bundesamt für Strassen (ASTRA) die Anzahl der im Verkehr getöteten Radfahrer von 48 (2000) auf 33 (2016), die Ziffer der Leichtverletzten stieg dagegen innerhalb der letzten 35 Jahre von 1059 auf 2542 (2015). Dazu gab es – wohl auch wegen des E-Bike-Booms – zuletzt immer mehr Schwerverletzte. Und das obwohl die Helmtrag­quote laut einer Erhebung des Bundesamts für Umwelt (bfu) von 14 Prozent (1998) auf 49 Prozent (2016) anstieg.

Fakt ist: Es wird immer enger auf unseren Strassen. Und die Nerven der Verkehrsteilnehmer liegen entsprechend blanker. Doch nicht nur bei Autofahrern sollte man die Schuld suchen. Baldato: «Auch die Radfahrer müssen Respekt zeigen. Nur so gehts.»

Es wird zu nah überholt

Genau nach dieser Prämisse trainiert Schär. «Wir sind fast nur auf Nebenstrassen unterwegs. Und auch da meist hintereinander.» Der Super-Roller geht noch weiter. Konkret: Er benutzt tagsüber ein «Daily Drive Light». Bei diesem Rücklicht-System werden spezielle, arrhythmische Impulse ausgesendet. Manchmal lange, dann mehrmals kurze. Oder umgekehrt. Schär: «Wenn ein Autofahrer beispielsweise eine SMS schreibt, beachtet er ein so blinkendes Licht eher als anderes.»

Trotz Schutzmechanismen: Schär fühlt sich im Training immer weniger sicher: «Im Herbst, wenn es neblig ist, habe ich manchmal wirklich Angst.» Ein grosses Problem: Autos, Töffs und Lastwagen überholen die Velofahrer mit ungenügendem Abstand. Das betrifft nicht nur Profi-Radfahrer, sondern auch alle Hobby-Gümmeler. Gemäss der Studie «Sicherheit beim Velofahren» von 2016 beklagen sich 67,3 Prozent aller Velofahrenden, dass sie «oft zu nah überholt» werden.

Der Aargauer Silvan Dillier, aktuell beim Giro d’Italia im Einsatz, kann ein Lied davon singen. «Letzte Woche war ich mit zwei Trainingskollegen unterwegs, als ein Töfffahrer nur Zentimeter an uns vorbeizischte. Wir verwarfen die Hände. Daraufhin hielt er am Strassenrand, bremste uns aus. Auch das war gefährlich. Letztlich behauptete er, wir seien nebeneinander gefahren. Was überhaupt nicht stimmte.»

«Es braucht Geduld»

Während beim Überholen in Deutschland ein Mindestabstand von 1,5 Meter gesetzlich verankert ist, gibt es in unserem Strassenverkehrs-Gesetz keine eindeutige Vorschrift. In Artikel 35 heisst es lediglich: «Wer überholt, muss auf die übrigen Strassenbenützer [...] besonders Rücksicht nehmen.»

Häufig gehen dabei jene mit positivem Beispiel voran, welche die Perspektive des anderen kennen. Einer dieser Menschen ist zweifelsohne Steffen Wesemann. Der 46-jährige Aargauer war einst ein Top-Crack auf zwei Rädern. Er gewann unter anderem die Flandern-Rundfahrt 2004 und fünfmal die Friedensfahrt – und er lebt seit jeher in der Schweiz.

Aktuell absolviert Wesemann, der an der Tour de Suisse als VIP-Chauffeur für Medienpartner BLICK amtet, die Lastwagenfahrschule. «Natürlich interessiert mich der Überholvorgang von Velofahrern besonders. Mit dem Auto, aber vor allem mit dem LKW, braucht es halt Geduld.» Auf dem Rad sieht man Wesemann kaum mehr. «Im Moment aus Zeitgründen. Aber es wird ja auch immer gefährlicher auf den Strassen.»

Ob Schär, Baldato, Dillier oder Wesemann: Sie alle appellieren an die Vernunft aller Verkehrsteilnehmer. Dillier bringt es auf den Punkt: «Das gegenseitige Verständnis ist oft nicht vorhanden. Vielleicht sollte man zwischendurch daran denken: Jeder stirbt nur einmal.»

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Diese Rad-Profis verunfallten im Training tödlich

22. April 2017 Michele Scarponi (†37, It). Bei einer Trainingsausfahrt in der Nähe seines Heimatorts Filottrano wird der Giro-Sieger von 2011 von einem Kleintransporter erfasst. Er stirbt noch an der Unfallstelle. Scarponi war Vater von zwei Buben.

18. Februar 2014 Kristof Goddaert (†27, Bel). Der Ex-Teamkollege des Schweizers Mathias Frank beim ehemaligen Schweizer IAM-Team gerät in Antwerpen mit dem Reifen in eine Strassenbahnschiene und stürzt. Er wird von einem hinter ihm fahrenden Bus überrollt und stirbt sofort.

22. Dezember 2013 Felix Baur (†21, Sz). Das Zürcher Nachwuchstalent wird in Alicante (Sp) von einem Auto erfasst und gegen eine Leitplanke geschleudert. Die Ärzte kämpfen tagelang um sein Leben, verzichten nach Baurs Hirntod aber auf weitere lebensrettende Massnahmen.

19. Januar 2011 Carla Swart (†23, SA). Bei der Strassen-WM in Melbourne (Aus) 2010 wird sie im Strassenrennen Zehnte. Drei Monate später übersieht sie im Training einen Lastwagen. Der Frontalzusammenstoss ist tödlich.

18. Juli 2005 Amy Gillett (†29, Aus). Mit ihren Teamkolleginnen bereitet sich die Australierin auf die Thüringen-Rundfahrt vor, als ein Auto frontal in die Trainingsgruppe hineinfährt. Gillett stirbt, fünf weitere Fahrer-innen verletzen sich schwer.

20. Juli 2003 Lauri Aus (†32, Est). Der estnische Sprinter wird in seiner Heimat von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und erliegt in der Folge den Verletzungen. Aus hinterlässt eine Ehefrau und zwei kleine Kinder.

15. Februar 2001 Ricardo Otxoa (†26, Sp). Der ehemalige Helfer von Teamleader Alex Zülle bei ONCE trainiert mit seinem Zwillings-bruder Javier, als es zur Kollision mit einem Auto kommt. Ricardo stirbt, Javier liegt 65 Tage im Koma und erleidet bleibende Schäden. Als Behindertensportler gewinnt er daraufhin bei den Paralympischen Spielen 2004 und 2008 Gold im Zeitfahren.

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