Am Samstag wird Tom Bohli über den Asphalt fliegen. Dann startet der 102. Giro d’Italia mit dem Prolog (8 km) von Bologna nach San Luca. Kurze Zeitfahren sind die Spezialität des Mannes aus Uznach SG. «Ich bin extrem motiviert, freue mich enorm», sagt er. Einen Sieg darf man von ihm trotzdem nicht erwarten. So weit ist Bohli (noch) nicht. Dennoch sorgt der Schweizer des Teams UAE Emirates schon seit einigen Jahren für die Musik – zumindest zu Hause in Feusisberg SZ. «Vor sechs Jahren fing alles an. Ich machte die Sportler-RS und konnte in dieser Zeit wenig aufs Velo. Da entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Pianospielen. »
Nur gerade zwei Musiklektionen leistete sich Bohli. Dann wurde er zum Autodidakt, brachte sich den Rest selbst bei. «Ich spiele häufig aus dem Kopf. Das tut mir gut. Es hilft, die grauen Zellen in Schwung zu halten. Wenn ich am Piano sitze, entfliehe ich in eine ganz andere Welt. Dann ist das Radfahren ganz weit weg.»
Das Gehör und Gefühl für Rhythmen und Noten bringt Bohli seit seiner Kindheit mit. «Meine zwei Jahre jüngere Schwester Sina spielte Blockflöte, ich dagegen nichts. Meine Eltern meinten, das sei beschämend», erzählt Bohli lachend, «und sie hatten recht. Mit elf begann ich also mit Klarinette.» Letztlich wechselte Bohli vom Blas- zum Tasteninstrument.
Zumindest für sein heutiges Leben erwies sich dies als nicht ideal. «Die Klarinette könnte ich heute problemlos mit auf Reisen nehmen. Beim Piano geht das nicht.»
Zuletzt habe ihm darum schon etwas gefehlt, als er für Trainingslager in Australien und Dubai lange weg war. «Meine Finger rosteten ein.» Immerhin: Die Musik begleitet Bohli auch so stets als Konsument. «Die klassische Musik ist wunderbar, sehr breit gefächert. Für jede Stimmung ist was dabei. Wenn ich etwas Imposantes, Schweres will – Wagner. Leichter und verspielter sind Stücke von Mozart, Rossini oder Verdi.»
Beim Shooting mit BLICK lässt Bohli seinen Worten am Stutzflügel Taten folgen. So explosiv er normalerweise in die Pedale tritt, so sanft streichelt er jetzt die Klaviertasten. Bei seiner ersten Teilnahme an einer grossen Rundfahrt wird beides gefragt sein: Power und Gefühl. «Vor dem Giro-Prolog werde ich mich mit rockiger Musik in Stimmung bringen, vielleicht mit Status Quo.»
Und dann geht es los. «Nicht irgendwie, sondern mit Vollgas!» Nur acht Kilometer, dafür ein knackiger Schlussanstieg stehen an. «Er kommt mir nicht entgegen. Ich hätte mir einen gänzlich flachen und technischeren Parcours gewünscht», so Bohli. Ausreden sucht der ehemalige Bahn-Juniorenweltmeister von 2012 aber nicht. «Ich muss mich an die Streckenführung und das Profil anpassen, nicht umgekehrt.»
Angst vor der Italien-Reise
Bohli freut sich auf die Herausforderung. Beim Prolog der Tour de Romandie wurde er zuletzt Dritter. Ab Sonntag wird der Gymi-Absolvent dann für Sprinter Fernando Gaviria (Kol) den Buckel krümmen. Und versuchen, den Giro zu beenden. Er gibt offen zu, dass ihm die 3518,5 Kilometer, die vor ihm liegen, «auch etwas Angst» machen. «Der Giro ist schwieriger als die Tour de France oder die Vuelta. Ich hoffe, dass ich die Pässe überlebe», sagt er schmunzelnd.
Und danach? Dann wird sich Bohli wieder ans Piano setzen. Er freut sich jetzt schon drauf.