Pech-Saison macht Cancellara zu schaffen
«Habe keine Kraft fürs Training»

Ein Jahr voller Rückschläge hat bei Fabian Cancellara Spuren hinterlassen. Nun spricht er über seine Tiefpunkte – und wie er sich für seine letzte Saison rüstet.
Publiziert: 27.09.2015 um 18:49 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 17:32 Uhr
Von Hans-Peter Hildbrand (Text) und Toto Marti (Fotos)

Fabian Cancellara, Sie kommen zu spät zu unserem Gespräch!
Fabian Cancellara: Entschuldigung, ich stand im Stau.

Ich dachte schon, Sie sind ein Rennfahrer, der nicht mehr rechtzeitig ins Ziel kommt!
(lacht). Ja, diese Saison war es wohl so.

Dann dürfen wir ja froh sein, dass Sie überhaupt hier sind.
Wenn ich dieses Jahr analysiere? Ich kann nicht sagen, dass ich glücklich bin. Ich komme nicht gerne zu spät. Ich will auch stets ins Ziel kommen, etwas zu Ende bringen. Aber irgendwie wollte es diese Saison nicht so sein.

Sie machen einen aufgestellten Eindruck. Haben auch ein bisschen an Gewicht zugelegt. Man sieht, wie sich das Hemd am Bauch spannt.
Ja, ja. Zwei Kilo, mehr nicht. Das ist ein «Slim Fit»-Hemd, andere kann ich nicht tragen. Normale kann ich nicht anziehen. Weil ich zu breite Schultern habe, hängt das Hemd dann wie ein Sack an mir.

Lassen Sie sich aus Frust gehen und hamstern einen Nussgipfel nach dem anderen?
Nein, nicht übertreiben bitte! Ich habe heute früh meinen Nussgipfel gehabt. Dafür gibt es dann weder am Mittag noch abends ein komplettes Menü.

Sie wissen, wo es die guten Nussgipfel gibt?
Klar, ich bin wählerisch. Einen Nussgipfel essen ist für mich ein Ritual. Gute Sachen findest du nicht überall. Ich esse ja gesund, weil ich gesund essen will. Nicht weil ich ein Sportler bin. Aber natürlich esse ich auch gerne mal eine Bratwurst.

Sind Sie da auch ein Spezialist?
Muss ich nicht sein. Aber eine Olma-Bratwurst vom St. Galler Metzger ist halt schon besser als eine abgepackte Kalbsbratwurst.

Wissen Sie, was eine Bratwurst kostet oder ein Kilo Brot?
Brot? Den Preis vom Weissbrot kenne ich nicht, weil ich es nie kaufe. Ich esse gesünderes Brot.

Ich frage, weil Sie nach der nächsten Saison aufhören. Und weil es heisst, dass Radprofis im Alltag unselbstständig sind. In den Teams wird ihnen alles abgenommen – und zu Hause legen sie stets die Beine hoch.
Stopp! Ich will und kann nicht ins Detail gehen, aber ich mache Sachen, die ich eigentlich in andere Hände geben sollte. Weil das für mich eine Treppe zu hoch ist. Aber ich will eben alles ganz genau wissen. Ich will nicht nur wissen, dass dies ein Blatt Papier ist. Ich will wissen, wie es gemacht wird. Wo es hergestellt wird. Was es kostet. Was ich damit machen oder nicht machen kann.

Ende 2016 hören Sie auf. Planen Sie schon ihre Zukunft?
Ja, es wird eine Veränderung für mich, für meine Frau, für meine Kinder und meine Freunde. Das fängt aber nicht erst Ende 2016 an, das fängt jetzt schon an. Ich muss jetzt die richtigen Schritte machen, denn im Februar habe ich dafür keine Zeit mehr. In ein paar Wochen geht für mich meine letzte Saison los. Dann will ich diesem Zeug nicht mehr nachlaufen.

Dann haben Sie sich für die neue Saison auch schon klare Ziele gesteckt?
Ja, die Termine für den Frühling sind wie alle Jahre gesteckt. Aber für mehr? Im Moment bin ich nicht bereit, meine Renneinsätze weiter zu planen und darüber zu reden.

Schauen Sie denn die laufenden WM-Rennen am TV?
Ja, das Zeitfahren habe ich geschaut. Bei einer guten Flasche Wein. Ich war nicht kribbelig oder nervös. Früher oder später – wenn ich nicht mehr Profi bin – wird das auch so sein.

Diese Saison sind Sie sehr viel daheim. Löscht das Ihnen als «Zigeuner» nicht manchmal ab?
Was mir ablöschte, war, dass ich zweimal daheim und dabei jeweils sehr angespannt war. Jetzt bin ich wieder gesund. Ich kann loslassen, kann mit den Kindern spielen. Aber nach den zwei Stürzen konnte ich weder im Frühling noch im Sommer mit den Kindern was machen. Ich hatte Gedanken, mich so schnell wie möglich zu erholen, um wieder aufs Velo zu kommen. Ich konnte nicht abschalten, ich musste vorwärts machen.

Haben Sie noch Schmerzen?
Ja, je nach Belastung auf dem Velo oder der Bewegung im Alltag, habe ich einen Punkt, den ich immer noch spüre.

Zweimal haben Sie zwei Rückenwirbel gebrochen. Wenn Sie bei den Stürzen Pech haben, sind Sie jetzt gelähmt.
Ja, ja. Ich glaube aber, Stefan Küng war näher am Rollstuhl als ich.

Machen Sie sich Vorwürfe? Haben Sie Fehler gemacht?
Nein. Der Sturz bei Olympia in London 2012, als die Goldmedaille auf dem Tablett lag, war meine Schuld. Da habe ich mir grosse Vorwürfe gemacht. An den Stürzen in diesem Jahr bin ich schuldlos. An der Tour konnte ich ja noch so reagieren, dass ich einigermassen gut abgeflogen und wahrscheinlich dadurch nicht im Rollstuhl gelandet bin.

Dann war da auch noch Ihre Aufgabe an der Vuelta.
Ja, das war für mich viel schlimmer. Diese Magen-Darm-Grippe hätte es nicht gebraucht. Ein drittes Mal von vorne anfangen, das schaffte ich nicht mehr. Jedesmal biss ich nur in den Lenker. Das war zu viel.

Seither sassen Sie nicht mehr auf dem Velo?
Doch, doch. Um den Thunersee fahren oder zwei Stunden biken, kein Problem. Vielleicht gar fünf Stunden. Aber eine Startnummer an den Rücken kleben, in den Lenker beissen, Töff-Training machen, das ging nicht mehr.

Können Sie das noch im Hinblick auf Ihre letzte Saison? Können Sie noch grosse Rennen gewinnen?
Ich brauche jetzt einfach Abstand. Brauche Frische. Das Kribbeln ist da, aber noch habe ich keine Kraft für die Trainings, für die Massage, für den Physio – all diesen Stress hatte ich seit dem Frühling bis vor ein paar Wochen. Klar war ich inzwischen in den Ferien, spielte mit den Kindern.

Wie läuft es Ihnen im Moment?
Jetzt bin ich der Papi und Ehemann, der ich sein will. Der geniessen kann, ohne auf Nadeln zu sitzen. Es ist doch cool, wenn dir die Tochter sagt: «Papi, heute war es so schön, mit dir ins Wasser zu springen und zu blödeln.» Jetzt weiss ich, wie es sein kann, wenn ich mal keine Rennen mehr fahre. Und ich nicht mehr Rücksicht auf den Athleten Cancellara nehmen muss. Es gibt ja nur noch ein weiteres Jahr für den Athleten.

Dann dürfen wir uns auf grosse Duelle gegen Stefan Küng freuen?
Wegen Stefan ändert sich nichts in meinem Leben, ob es nun Duelle geben wird oder nicht. Ich freue mich einfach, dass er von einem besseren, gesünderen Radsport profitieren kann. Ich fuhr noch gegen Athleten, die alle ein Dopingproblem hatten. Aber einfacher ist es für ihn nicht. Es ist anders, besser.

Wie schätzen Sie die Chancen Ihrer Kollegen Albasini, Dillier und Rast am Sonntag im WM-Strassenrennen ein?
Das Rennen ist offen, alles ist möglich.

Schauen Sie sich das Rennen an?
Natürlich. Aber erst das Finale, am Anfang sind die WM-Rennen doch eher langweilig.

Und wird es kribbeln?
Kaum. Klar wäre ich gerne dabei, aber es ging einfach nicht. Und nur den toten Fuchs spielen, das kann und will ich nicht.

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