Thibaut Pinot (29) träumte und mit ihm ganz Frankreich. Er hatte die grosse Chance. Die grosse Chance, als erster französischer Profi seit Bernard Hinault 1985 die Tour de France zu gewinnen. Bis zur 19. Etappe, als er verletzt aufgeben musste. Eine Muskelverletzung zwang ihn in die Knie. Unter Tränen stieg der Groupama-FDJ-Teamkollege des Schweizers Stefan Küng ins Begleitfahrzeug.
Pinot ist am Boden zerstört, klar. Wie schlimm es um ihn steht, wird aber erst in den Tagen nach der Tour bekannt. Der TV-Sender France 2 ist dabei, als er mit seinem Teamchef Marc Madiot im Hotelzimmer sitzt. Es sind emotionale Minuten.
Zuerst schmeisst Pinot seinen Helm durch den Raum, zieht das Trikot aus. Er setzt sich mit nacktem Oberkörper hin, schaut aus dem Fenster. Dann fängt er an, mit Madiot zu sprechen.
Das Hotelzimmer-Protokoll
Pinot: «Was habe ich getan, dass ich diesen Mist verdiene?»
Madiot: «Das hast du nicht verdient. Du hast das nicht verdient, was dir geschehen ist. Aber das kann passieren…»
Pinot: «Immer das Gleiche…»
Madiot: «Du hast alles richtig gemacht, du kannst nichts dafür.»
Pinot: «Es ist vorbei, ich höre auf.»
Madiot: «Nein, sag das nicht. Sage heute nichts, was du morgen bedauern wirst.»
Pinot: «Ich höre auf.»
Madiot: «Nein, nein.
Pinot: «Ich kann nicht mehr.»
Madiot: «Du hast alles gut gemacht, du hast dir nichts vorzuwerfen. Mach weiter so und eines Tages wird sich die Tür öffnen.»
Nach einer Pause fährt Madiot fort: «Du hast nicht das Recht, du bist ein Grosser. Ein Typ wie du gibt nicht auf. Du hast bis heute nie aufgegeben, nie, seit du fährst. Du hast nie aufgegeben. Du hast alles überstanden. Man hat dich scharf kritisiert. Aber du hast die schwierigsten Momenten überstanden. Du hast immer alles durchgestanden. Du bist fast am Ziel. Du bist fast da, das ist ein kleines Problem des Schicksals. Du wirst es schaffen. Wir werden es schaffen. Wir werden Dich nicht gehen lassen. Die Mannschaft ist bei dir. Du bist gross.» Pinot schüttelt den Kopf.
Madiot: «Ja, du hast einen Moment. Das ist verheerend. Aber du wirst sagen, was du gerne sagen möchtest. Dann wird sich alles erledigen. Und morgen, verdammt noch mal, wird es wieder hell werden.»
Pinot: «Das hast du mir schon im vergangenen Jahr gesagt.»
Madiot: «Aber ja, da ist der Beweis. Habe ich mich getäuscht oder nicht, dass es hell werden würde? Man darf niemals aufgeben. Du hast es in dir. Es gibt keine fünfzig Typen, die das drauf haben. Also, das Schicksal wird dir jetzt nicht Recht geben. Aber du wirst Recht bekommen.»
Pinot beginnt zu weinen: «Ich habe es satt.»
Madiot: «Ja, du hast es satt, das ist normal, dass du jetzt die Nase voll hast. Das ist normal, das ist normal. Du musst dich nicht verstecken, du musst dich für nichts schämen. Du hast gegeben, was du geben musstest. Du hast alles gegeben.»
«Ich muss die Tour gewinnen»
Später fängt sich der 29-Jährige, scheint das Positive zu sehen. «Ich konnte mit einem Bein mithalten», sagt er zu «Le Monde». «Ich will mich nicht fragen, ob ich Bernal hätte folgen können. Ich war mit einem Bein unterwegs, das ist alles.» Und: «Nach den Pyrenäen lag ich vor Bernal. Ich sehe nicht, warum ich drei Tage nach meinem Sieg auf dem Prat d'Albis weniger stark gewesen wäre. Ich war parat.»
Der Fall ist klar für ihn. Zu «L'Equipe» sagt er: «Um das alles zu vergessen, wird nur ein Sieg helfen. Ein Podestplatz reicht nicht mehr. Ich muss die Tour gewinnen.»