Marlen Reusser blickt über den Velo-Tellerrand hinaus
«Magersucht ist ein Problem im Radsport»

Marlen Reusser (30) ist das Aushängeschild des Schweizer Frauen-Radsports. Die ausgebildete Ärztin spricht vor der Tour de France über Magersucht und den Krieg in der Ukraine.
Publiziert: 24.07.2022 um 14:32 Uhr
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Aktualisiert: 25.07.2022 um 13:14 Uhr
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Marlen Reusser liebt das Leben als Radprofi. Die ausgebildete Ärztin sorgt sich aber auch um die Gesundheit.
Foto: Sven Thomann
Mathias Germann (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Marlen Reusser, dürfen wir Sie nach Ihrem Gewicht fragen?
Weil ich Spitzensportlerin bin, ja (schmunzelt). Aktuell wiege ich 70 Kilo.

Und sonst?
Im Winter nehme ich wie durch Zauberhand zu, als wäre ich eine Katze. Dann zeigt die Waage 73 Kilo an. Aber ich schwitze im Frühling und Sommer auch rasch alles wieder weg.

Sie sind 1,80 m gross. Da wären die meisten mit Ihrem Gewicht ziemlich zufrieden – Sie haben von Ihrer ehemaligen Teamkollegin Elise Chabbey einen speziellen Spitznamen erhalten.
«The flying elephant».

Wie kam Chabbey darauf, Sie einen fliegenden Elefanten zu nennen?
Ich bin im Vergleich zu vielen Fahrerinnen eher gross und schwer. Und weil ich trotzdem schnell den Berg hochfuhr, nannte mich Elise einige Male so.

Das Thema Gewicht kann auch sehr ernst sein. Ist Magersucht im Radsport weit verbreitet?
Es gibt keine Studien.

Aber?
Mein subjektiver Eindruck ist: Ja. Magersucht oder vor allem eine zu geringe Energieversorgung – was nicht das Gleiche beinhaltet – ist ein Problem.

Als Ärztin haben Sie ein Auge dafür?
Ich denke schon. Es ist ein Thema, das mich beschäftigt.

Sie haben sich vorletztes Jahr Sorgen um eine Teamkollegin gemacht.
Es war offensichtlich. Sie war wirklich sehr mager. Neben der psychischen Belastung, dünn sein zu wollen, droht bei Magersucht später Osteoporose.

Welche wären die Gefahren bei einem Radrennen?
Der Blutverlust bei einem Sturz könnte lebensgefährlich sein. Bei einem Radrennen ist eine gute Gesundheit Voraussetzung. Wenn eine Person, die körperlich und psychisch krank ist, trotzdem teilnimmt, ist das absurd.

Sie schrieben dem Rad-Weltverband UCI einen Brief. Wer eine Untergrenze beim Body-Mass-Index erreiche, solle zu Tests verpflichtet werden. Und gegebenenfalls ein Startverbot erhalten. Haben Sie eine Antwort erhalten?
Ja, UCI-Präsident David Lappartient schrieb mir persönlich und bot mir ein persönliches Gespräch an.

Und?
Ich bin dran, einen passenden Termin zu finden.

Die Teams könnten die Fahrerinnen selbst zur Brust nehmen.
Das funktioniert nicht, denn eine Hand schüttelt die andere. Alle in einem Team wollen den maximalen Erfolg. Und Teamärzte würden diesen möglicherweise gefährden, sollten sie ein Startverbot erteilen. Es muss von der UCI mit einer Regel vorgeschrieben werden – bislang gibt es pro Jahr nur eine Untersuchung und zwei Labortests. Doch diese zielen nicht darauf ab, ob jemand zu leicht ist oder Essstörungen hat. Es fehlt also die richtige Herangehensweise.

Je leichter man ist, desto schneller gehts den Berg hoch. Irgendwann dreht sich Spiess aber um, oder?
Sicher. Aber wo ist die Grenze? Das herauszulesen, ist nicht einfach. Mir ist wichtig, dass Fahrerinnen, die magersüchtig oder auch psychisch krank sind, aus dem Verkehr gezogen werden. Dann hat das übertriebene Abnehmen auch keinen Reiz mehr.

Was ist als Radprofi das Schwierigste bei der Ernährung?
Entscheidend ist, die verbrauchten Kalorien zum richtigen Zeitpunkt zurückzuholen. Kürzlich habe ich bei einem Training 5000 Kalorien verbraucht. Dazu kamen 2000 für den natürlichen Bedarf. Machte 7000 Kalorien. Es ist nicht einfach, so viel zu essen – manchmal kommt man kaum nach, die Speicher zu füllen.

Sie sind seit Ihrer Kindheit Vegetarierin. Spielt das eine Rolle?
Überhaupt nicht. Einige haben wohl Angst, ohne Fleisch etwas zu verpassen. Sie ist unbegründet. Ich brauche auch keine vegetarischen Ersatzprodukte und bin top ernährt.

Sie wuchsen auf einem Bauernhof auf. Hatten Sie Mitleid mit den Tieren, die geschlachtet wurden?
Schon als Kind merkte ich – da läuft etwas ganz falsch. Gemäss den Richtlinien produzierten wir mit hohen Standards, doch das reichte für mich nicht. Beim Schulweg machten öfters Lastwagen halt, sie hatten Hühner zur Schlachtung geholt. Ich habe damals in die Kisten hineingeschaut. Die Hühner waren zusammengepfercht – einige waren tot, andere lebten noch. Es war ein elender Anblick. Das Letzte, was ich noch heute essen würde, wären Chicken Nuggets.

Sie stürzten in England und mussten wegen Corona auf die Tour de Suisse verzichten. Wie geht es Ihnen vor der Tour de France?
Sehr gut, danke. Ich habe sehr gut trainiert.

Welche Rolle werden Sie einnehmen?
Schwierig zu sagen. Ich bin sicher nicht die alleinige Leaderin, wir fahren wohl vor allem für Demi Vollering. Aber die genaue Teamtaktik darf ich nicht verraten.

Sie machen sich viele Gedanken über das Weltgeschehen. Wie sehr trifft Sie der Krieg in der Ukraine?
Er ist eine sehr grosse Tragödie. Gleichzeitig denke ich: Vor nicht allzu langer Zeit herrschte auch in Syrien Krieg. Das interessiert kaum jemanden, wir Schweizer waren nicht halb so solidarisch.

Warum nicht?
Vielleicht, weil die Kultur dort für uns weiter weg ist. Oder weil es uns wirtschaftlich weniger betrifft. Es gibt viele Kriege und Ungerechtigkeiten auf der Welt, die uns nicht interessieren. Oder Firmen, die in der Schweiz registriert sind und im Ausland Mist machen. Das ist zum Haareraufen.

Ihr Ex-Freund war ein Flüchtling. Würden Sie auch Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen?
Meine Grosseltern mussten letzten Herbst ins Altersheim, das Stöckli neben unserem Bauernhaus wurde frei. Meine Schwester und ihr Freund wollten eigentlich dort einziehen. Sie haben sich aber entschieden, ein Ehepaar aus der Ukraine mit drei Kindern und ihrer Mutter aufzunehmen. Ich finde das wunderschön.

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