So etwas hat Gino Mäder (25) noch nie erlebt. Auf seinem linken Arm thront ein Steinadlerweibchen. Ihr Name? Asul. Sie ist 14 Jahre alt, 5,5 Kilo schwer und hat eine Spannweite von 2,10 Metern. Der Adler stammt von der Falknerei Galina in Malbun (Lie), wo die letzte Bergetappe der Tour de Suisse endet. «Ein majestätisches, sehr eindrückliches Tier. Wenn es flattert, merke ich sofort die unglaubliche Kraft», sagt Mäder.
Ohne einen speziellen Greifvogel-Handschuh wäre es für Mäder gar nicht möglich, das Jagdtier auf dem Arm zu halten. «Asul kann ihre Krallen mit bis zu 70 Kilo pro Quadratzentimeter in das Fleisch ihrer Opfer bohren. Damit würde sie Ginos Knochen zersplittern», sagt Norman Vögeli, Asuls Herrchen.
«Ich habe ihr Gewicht unterschätzt»
Gefahr besteht für das Schweizer Rad-Ass dennoch nicht. Denn: Erstens ist Asul gut trainiert, zweitens trägt sie eine Schutzhaube («so bleibt sie ruhig»), und drittens macht Mäder als Hobby-Falkner eine ähnlich gute Figur wie auf dem Velo. «Ich hatte ein wenig Bammel. Aber es hat gut geklappt. Einzig ihr Gewicht habe ich unterschätzt. Das war für mich fast schon ein Workout, schliesslich habe ich dünne Velofahrer-Arme», so Mäder schmunzelnd. Sein Fazit: «Asul ist fast beängstigend stark.»
Ähnlich denken viele Radprofis über Mäder. Kein Wunder, brillierte er doch zuletzt auf mehreren Ebenen. Die eindrücklichen Zahlen: Sieg bei der Königsetappe der Tour de Suisse 2021, dazu Gesamtfünfter bei der Vuelta und die Auszeichnung als bester Jungprofi. Und vor gut einem Monat Zweiter bei der Tour de Romandie – das hatte seit 18 Jahren kein Schweizer mehr geschafft. Wie stehen nun die Chancen auf einen Tour-de-Suisse-Sieg? «Er zählt für mich zu den Top-Favoriten. Auch, weil er bewiesen hat, dass er mit Druck umgehen kann», sagt Marc Hirschi (23). Stefan Bissegger (23), ein weiteres Schweizer Rad-Ass, geht noch weiter. «Gino kann sogar eines Tages die Tour de France gewinnen», so der Thurgauer.
Evenepoel, Wlassow – oder doch Mäder?
Mäder fühlt sich ob so viel Lob geehrt. «Es ist schön, dass Marc und Stefan an mich glauben», sagt er. Gleichzeitig ist ihm bewusst, was noch vor ihm steht. «Um die Tour de France zu gewinnen, braucht es extrem viel. Da muss dein ganzes Leben perfekt ablaufen. Alles muss zu 100 Prozent passen. Davon bin ich noch ein Stück weit entfernt. Aber ich arbeite daran», so Mäder.
Vorerst konzentriert sich Mäder aber sowieso auf die Tour de Suisse. «Ich kann sie gewinnen», ist er überzeugt. «Das ist mein Anspruch, denn es ist ein Rennen, das meinen Fähigkeiten entgegenkommt. Ob ich es schon in diesem Jahr schaffe, weiss ich nicht», so Mäder. Vielleicht wird er darauf angewiesen sein, dass andere nicht ganz ihr Leistungspotenzial abrufen. So zum Beispiel Remco Evenepoel (22), das belgische Wunderkind. Oder Alexander Wlassow (26, Russ), der ihm bei der Tour de Romandie vor der Sonne stand. Letzterer meint allerdings: «Die Tour de Suisse ist ein wichtiges Rennen. Aber die Tour de France ist mein grösstes Ziel – dann will ich auf dem Zenit sein.»
«Ein Seriensieger werde ich nie»
So oder so: Mäder lässt sich nicht verrückt machen. Nicht mehr. «Ich habe gemerkt, dass jeder sich in seinem Tempo entwickelt. Bei mir dauerte es vielleicht länger, aber ich blieb immer dran. Ich weiss, dass ich nie ein Seriensieger werde, dafür fehlen mir Endschnelligkeit und Kaltschnäuzigkeit. Mein Anspruch bleibt trotzdem unverändert – ich will der Beste sein. Das ist mir wichtig», sagt er.
Sollte Mäder die Tour de Suisse gewinnen, wäre er der erste Schweizer Sieger seit Fabian Cancellara (41) im Jahr 2009. «Vielleicht bin ich am Ende aber auch zufrieden, obwohl ich es nicht schaffe. Weil meine Leistung gut war. Dann wäre ich auch nicht enttäuscht», so Mäder. Kurz darauf steigt er aufs Rad und fährt los – diesmal bergab. Auf die Rückkehr nach Malbun freut er sich schon jetzt.