Seit 1998 hat es kein Radfahrer mehr geschafft, im gleichen Jahr sowohl Giro d'Italia und Tour de France zu gewinnen. Damals war es der legendäre Marco Pantani (†34), dem das Kunststück gelang. Doch nun gibt es wieder ein Anwärter auf das Double: Nairo Quintana.
Dem 27-jährigen Bergfloh aus Kolumbien ist die «Mission Impossible» zuzutrauen. Vor allem aber traut er es sich selbst zu! «Es zu schaffen, ist eine extra Motivation. Mein Team und ich sind überzeugt, dass es aufgrund meines Alters und meiner Form möglich ist, etwas so Riesiges zu erreichen», erklärt Quintana vor dem Giro-Start in der «Gazzetta dello Sport».
«Der 100. Giro ist eine moralische Verpflichtung»
Die Qualität des Movistar-Leaders ist unbestritten. Zwei der drei grossen Rundfahrten gewann er bereits: Den Giro d'Italia 2014 und die Vuelta a España 2016. Dazu wurde Quintana in der Tour de France zweimal Zweiter (2013 und 2015). Beide Male stand im dabei der dreifache «Grande Boucle» Chris Froome (32) vor der Sonne. Aber: Der Brite, der den Giro seit sieben Jahren meidet wie der Teufel das Weihwasser, ist alles andere als in Überform. Im Gegensatz zu Quintana (3 Etappensiege und Gesamtwertung des Tirreno-Adriatico) stand Froome 2017 noch nie auf einem Siegerpodest.
Sicher ist: Mit einem Giro-Sieg wäre Quintana den grössten Druck los und könnte im Juli die Tour «befreit» in Angriff nehmen. Damit dies gelingt, geht der 59 Kilo leichte Super-Kletterer auf Schmusekurs mit dem italienischen Publikum. «Ich fühle mich moralisch verpflichtet, bei der 100. Austragung des Giro mit dabei zu sein. Das ist ein Zeichen der Anerkennung gegenüber jenem Rennen, welches mir meinen ersten grossen Sieg geschenkt hat.»
Als der kleine Nairo Pantani im TV sah
Ob Quintana die Tifosi so auf seine Seite bringt? Viel wird davon abhängen, ob ihn der italienischen Mitfavorit Vincenzo Nibali (32) bedrängen kann. Quintana zieht derweil Vergleiche zu Pantani: «Ich bin ähnlich wie er, wir sind sogar gleich gebaut. Ich werde nie vergessen, wie Pantani 1998 das Double holte, welch epische Leistung er damals zeigte.»
Tatsächlich war Quintana damals erst acht Jahre alt. Dass er selbst eines Tages Profi werden könnte, schien unmöglich. Mit seiner Familie lebte der kleine Nairo in Cómbita auf einem kleinen Bauernhof in 2800 Metern Höhe. Laut eigener Aussage war seine Familie nicht arm. Trotzdem schufteten er und seine vier Geschwister auf dem Feld mit, um zu helfen – zumal sein Vater nach einem Unfall körperlich behindert war.
Das nächste Kapitel im Märchen?
Um Geld zu sparen, fuhr Quintana ab seinem 15. Lebensjahr mit einem einem 20 Kilogramm schweren Vélo jeweils zur Schule und zurück – täglich 42 Kilometer. Da es jeweils eine happige Steigung auf der Route gab und seine Schwester Esperanza langsamer fuhr, band Nairo ihr Rad oft mit einer Schnur an sein Vélo und zog sie mit. Trotz des Zusatzgewichts überholte er dabei ambitionierte Radfahrer, die auf der gleichen Strecke trainierten. Als er dies seinem Vater erzählte, erkannte dieser das Potential des Sohnemanns – acht jahre später (2014) wurde Nairo Profi.
Längst ist die Geschichte Quintanas ein Märchen. Sollte er der Nachfolger Pantanis werden, wäre es um ein unglaubliches Kapitel reicher.