Cancellara über Terror
«Für meine Kinder wird es noch schlimmer»

Am Montag kommt die Tour de France in seine Heimat. Fabian Cancellara (35) über den Stress, der ihn in Bern erwartet. Über den Horror in Nizza und sein Leben in einem Hamsterrad.
Publiziert: 17.07.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 18:55 Uhr
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Am Mont Ventoux hatte Cancellara mit panikartigen Gefühlen in der Menschenmenge zu kämpfen, weil ihm nicht Platz gemacht wurde.
Foto: foto-net / Cor Vos
Interview: Hans-Peter Hildbrand

SonntagsBlick: Der Mont Ventoux ist geschafft. Jetzt wartet Bern auf den Tour-Tross.
Fabian Cancellara:
Ja, der Mont Ventoux war schlecht organisiert. Und einmal mehr hat es sich gezeigt, dass die Tour einfach zu gross ist. In kurzer Zeit sind viele Dinge verloren gegangen. Am Schluss bezahlt das der Rennfahrer mit seiner sportlichen Leistung. Der Rennfahrer hat einfach verloren. Und diese fanatischen Zuschauer da oben, ich fand es dramatisch!

Sie sprachen gar von Panik!
Ich selber war ja abgehängt. Zuerst fuhr ich im Gruppetto. Dann meinen Tritt. So, wie man es mir gesagt hat. Ich nahm extra eine kleine Übersetzung. Ich fuhr alleine und komme dann in diese Menschenmenge. Die ging nicht weg. Ich fand den Weg nicht. Das gab mir zu denken. Das hat mich traurig gemacht, dass wir in diesem Sport so weit gekommen sind. Aber es waren halt keine Abschrankungen da.

War das Attentat in Nizza im Team ein grosses Thema?
Einer unserer Masseure wohnt in Nizza. Seine Familie war am Fest dabei. Weil die Tochter aber müde war, gingen sie früher nach Hause. Zehn Minuten später und sie hätten auch sterben können. Im Team war es kein grosses Thema. An der Tour lebst du in einer eigenen Welt, in einer Glaskugel oder in einem Hamsterrad, das sich dreht und dich doch nicht vorwärts bringt. Du nimmst es wahr, bist traurig. Und wenn es um Kinder geht, bist du noch trauriger. Am Abend hörte ich auch noch vom Putsch in der Türkei. Wo um Himmels Willen kannst du noch sicher sein? Meine Kinder werden das alles noch schlimmer erleben. Ist doch traurig, dass diese Welt je länger je schlimmer wird.

In Bern wird es am Montag bestimmt sicher.
Die Polizei bekam ja einen Ferienstopp!

Worauf freuen Sie sich in Bern?
Auf die Familie. Auf die freue ich mich am meisten. Das Wichtigste ist, dass ich sie alle gesund in die Arme nehmen kann. An dieser Tour ist ja bis jetzt genug passiert. Vielleicht sehe ich auch ein paar Freunde. Ich freue mich auf Bern, auf das Heimkommen. Denn die Tour de France ist sicher nicht mein Daheim.

Vermissen Sie Ihre Familie mehr als sonst, oder geniessen Sie die letzte Tour de France?
Ich vermisse meine Liebsten sehr, das ist normal. Geniessen? Es ist schwierig, ob das im Moment ein Geniessen ist.

Schlafen Sie nach der Etappe daheim in Ittigen oder im Hotel in Bern?
Darüber habe ich mir bis jetzt noch überhaupt keine Gedanken gemacht.

Haben Sie ein bisschen Angst, was in Bern auf Sie zukommen könnte?
Nein, wieso? Mein Problem ist: Der Cancellara ist die zwei Tage in Bern ausgebucht. Es werden für mich zwei sehr stressige Tage werden.

Wissen Sie, wo Ihre Familie am Strassenrand steht?
Die stehen nicht am Strassenrand. Die kommen ans Ziel zum Teambus.

Werden Sie die Leute am Strassenrand, die Sie anfeuern, erkennen?
Nein, diesmal nicht. Es ist nicht die Tour de Suisse, wo du ein paar Mal den Aargauerstalden hochfährst. Jetzt fährst du einmal, aber dann richtig. Die letzten 5000 Meter werden ganz speziell werden.

Es gibt eine Spartakus-Night, dann eine rauschende Party. Sind Sie dabei?
Beim Nachtessen bin ich dabei, aber sicher nicht an der Party. Nach meiner Karriere habe ich dann genug Zeit zum Feiern.

Macht sich bei Ihnen Wehmut bereit?
Abschied von der Tour? Nein, gar nicht! Die Tour de France gab mir sehr viel. Die Tour hat mir einen internationalen Stellenwert gegeben. Aber: Mit den Jahren habe ich auch die Glaskugel gesehen, in der die Tour lebt. Deswegen bin ich auch nicht traurig, dass ich 2017 nicht mehr dabei bin. Weil ich halt auch ein Kritiker geworden bin.

Werden Sie oft von den Rennfahrer-Kollegen auf das Karrierenende angesprochen?
Ja, doch. Sie sagen: Bist du sicher? Fahr doch noch ein Jahr. Mach doch weiter. Aber es ist noch lustig: Wenn du gut fährst, haben alle das Gefühl, du könntest noch weiterfahren. Ich habe verschiedene Kommentare gehört. Ich bekam viele Komplimente, dass ich etwa ein Vorbild sei, sie gratulieren mir für die ganze Karriere.

Gönnen Sie sich bei dieser Abschieds-Tour Dinge, die Sie sich vorher nicht gegönnt haben?
Das Einzelzimmer! Das erste Jahr an der Tour, wo wir Einzelzimmer haben. Die Organisatoren haben das so beschlossen, aber nur, wenn die Zimmer zu klein sind. Wenn ich das früher gewusst hätte, wie cool und angenehm das ist, dann hätte ich das die letzten Jahre auch schon gemacht. Denn bei neun Rennfahrern hat immer einer ein Einzelzimmer. Aber ich hatte ja stets tolle Zimmerkollegen. In letzter Zeit brauche ich einfach mehr Erholung. Es ist nicht der Abschied, der kommt. Ich habe ja sonst nie Zeit. Auch jetzt nicht, ich habe keine Zeit für mich. Ich habe zwei Filme von Ben Stiller heruntergeladen, habe aber noch keine Sekunde davon gesehen.

Ein Vergleich in der Geschichte des Radsports: Wo sehen Sie sich selbst?
Ich? Das kann ich doch noch nicht sagen! Das weiss ich doch nicht!

Ich sehe Sie als Nummer 3 hinter Ferdy Kübler und Hugo Koblet.
Ich bin eigen. Ich war in meiner Karriere anders. Man kann doch die Zeiten nicht vergleichen. Ferdy wie Hugo haben die Tour gewonnen, Ferdy war auch noch Weltmeister. Die Tour de France steht über allem.

Kommen wir zu den Olympischen Spielen in Rio. Träumen Sie von Gold wie in Peking?
Das will und werde ich nicht kommentieren. Wir sind hier an der Tour, Rio kommt später. Ich bin im Moment nicht in Rio.

Ein Wort zu Ihrem Nachfolger Stefan Küng.
Halt! Mein Nachfolger? Wieso? Ich bin Fabian Cancellara, Stefan Küng ist Stefan Küng.

Aber er ist ein grosses Talent. Was trauen Sie ihm zu?
Unbestritten sind seine Qualitäten. Er hat alle athletischen Voraussetzungen. Er ist jung, er hat schon sehr viel gelernt. Er muss aber noch weiter lernen.

Was macht er denn falsch? Er stürzt ja dauernd!
Vielleicht ist es seine Risikobereitschaft. Sein grosser Ehrgeiz. Der Dickschädel? Ich weiss es nicht. Nur soviel: Ich habe auch das zweite Mal in Paris–Roubaix einen «Seich» gemacht, bin voller Freude als Erster auf die Rennbahn eingebogen und wurde prompt geschlagen. Das sorgte bei vielen Leuten fast für einen Herzstillstand. Aber Franco Ballerini hat mir gesagt: «Du hast heute verloren. Aber das ist der Grundstein für Siege.» Vielleicht trifft es bei Stefan auch ein: Mit dem Sturz hat er eventuell den Prologsieg am Giro vergeben, mit seinem Sturz an den Meisterschaften vielleicht eine Olympia-Medaille verschenkt.

Letzte Frage: Motorendoping?
Jetzt lachen alle darüber, wenn die Kontrolleure kommen. Zu Beginn der Tour wurden die Kontrollen noch begrüsst, aber jetzt, Giele wo sind wir eigentlich!

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