Die Situation ist bizarr. Soeben hat Stefan Küng ein Rennen gewonnen. Und dann sogar noch in seinem Wohnort Frauenfeld TG. Doch von Jubel, Trubel, Heiterkeit ist nichts zu spüren. Küng sitzt im Keller seines Wohnblocks auf dem Rad und fährt an Ort und Stelle aus. Einige Velos, ein Smart Trainer, ein Handy, ein Tablet – viel mehr ist da nicht. Ausser betongraue Wände. Egal. Nach 45 Kilometern ist Küng 47 Sekunden schneller als Filippo Ganna (It), Dritter wird Michael Matthews (Aus, +1:28 Minuten). «Ich freue mich», so Küng.
Stefan Küng, wie hoch ist Ihr Puls jetzt?
Stefan Küng: Im Rennen war er oft bei 180 und auch jetzt pumpt das Herz noch ziemlich stark (schmunzelt).
Hier in Frauenfeld sind Sie wohl unschlagbar?
Ich bin zuhause äusserst motiviert. Vor zwei Jahren gewann ich mit BMC das Teamzeitfahren der Tour de Suisse. Und jetzt mein erstes virtuelles Rennen.
Welchen Wert hat dieser Sieg?
Das Rennen war ein Heimspiel und ich habe meine Ehre verteidigt. Momentan sind halt nur solche Rennen möglich. Das ist schade, aber ich mache das Beste aus der Situation. Es hat auch heute gut geklappt.
In Ihrem Velo-Keller herrschen kühle 16 Grad.
Trotzdem habe ich in dieser Stunde unglaublich geschwitzt. Es war hart, richtig hart.
Und ein Start-Ziel-Sieg. Eine bewusste Taktik?
Ich wollte von Anfang an Gas geben. Dazu gibt es einige Kniffs, die ich angewendet habe – aber diese verrate ich nicht (lacht).
In welche Richtung gehen sie?
Ich habe mich schon früh mit der Strecke auseinandergesetzt, kannte die Topographie genau. Mehr will ich nicht verraten, denn ich fahre am Samstag nochmals.
Längst hat sich der Herzschlag von Stefan Küng beruhigt. Er spricht so wie immer: bedacht und doch offen – einfach ehrlich. Und genau so blickt er auf die letzten, harten Wochen zurück. Seit Ende März ruht der Rad-Zirkus. Die Corona-Pandemie traf den Sport im Mark. Und damit auch Küng.
Wie haben sie die laufenden Rennabsagen verkraftet?
Ganz ehrlich: Die ersten zwei Wochen, nachdem es klar war, dass wir uns auf eine lange Pause einstellen müssen, waren ein innerer Kampf. Das musste ich zuerst einmal verdauen. Denn ich hatte einen super Winter, war perfekt vorbereitet. Alles war angerichtet – und dann löste sich alles in Schall und Rauch auf.
Konnte Ihre Freundin Céline Sie aufbauen?
Gegen Aussen war ich immer noch der Gleiche – vermute ich zumindest (schmunzelt). Aber innerlich war ich natürlich extrem enttäuscht. Zum Glück konnte ich in der Schweiz immer nach draussen, um zu trainieren. Ich begann, mir selbst anhand von Trainings- und Leistungswerten Herausforderungen zu stellen. Ich pushe mich extrem. Mein Kredo war: Mach das Beste aus der Situation!
Wie sehr fehlt das Rennfieber?
Klar, ein Rennen kann man so nicht eins zu eins simulieren. Immerhin: Heute war ich vor dem Start wieder einmal richtig nervös. Wunderbar.
Gemäss den Plänen des Rad-Weltverbands UCI sollen die Rad-Profis im Spätsommer wieder Rennen fahren. Tour de France, Giro, Vuelta, die WM und einige Klassiker – alles wurde in einen neuen Kalender hineingequetscht.
Was denken Sie: Werden Sie in diesem Jahr noch Rennen fahren?
Ich weiss es nicht. Es gibt so viele Faktoren, so viele Länder, wo sich Virus unterschiedlich stark verbreitet.
Was sagt ihr Gefühl?
Die Chancen stehen 50 zu 50. So sehr ich meinen Beruf liebe: dieser Virus ist grösser als der Sport. Wir müssen ihn in den Griff bekommen – dann schauen wir weiter.
Am 20. September endet die Tour de France. Am gleichen Tag steigt das WM-Zeitfahren in der Schweiz. Was werden Sie tun?
Sollte es wirklich so weit kommen, würde ich gerne zwei Wochen der Tour fahren und dann aussteigen. Es geht dann sowieso in die Berge, was nichts für mich ist. So könnte ich mich auf die WM vorbereiten.
Und was, wenn Ihr Teamleader Thibaut Pinot sie noch braucht, weil er das Maillot Jaune trägt?
Dann wäre ich im Clinch, klar. Aber wir würden auch dann eine Lösung finden.
Was, wenn 2020 nicht mehr gefahren wird?
Irgendwann werde ich die Ernte für meinen Fleiss einfahren. Das, was ich jetzt tue, ist nicht vergebens. Radsport ist ein Ausdauersport, man lebt von den letzten drei Jahren.
Wie wird diese Krise den Radsport verändern?
Ich hoffe nicht allzu sehr, aber ich befürchte, dass einige kleinere Teams aufgeben müssen. Dann tun mir vor allem die jüngeren Fahrer leid, die vielleicht keinen Job mehr finden.
Wenn Sie eines Tages wieder mal an einer Startlinie stehen: Was werden Sie fühlen?
Eine riesige Vorfreude.