Es ist ein Spätsommertag im Jahr 2015, als Dominik Nerz die Arztpraxis betritt. Bei 1,80 m wiegt er 58 Kilo. «Viel zu viel», ist der Deutsche aus Wangen im Allgäu überzeugt. «Ich sollte abnehmen, sonst schaff ich es bei der Tour de France nie an die Spitze», denkt er. Eine Stunde später ist die Konsultation vorbei – und Nerz ein anderer Mensch. «Der Arzt hat mir die Augen geöffnet. Gesagt, dass ich magersüchtig bin. Und dass, wenn ich so weitermachen würde, ich in einem Monat tot wäre», erinnert er sich.
Sieben Jahre sind seit jenem Tag vergangen. Wir treffen Nerz in seinem Restaurant «fein7» in Dornbirn (Ö), zehn Kilometer hinter der Schweizer Grenze. Er ist Besitzer des edlen Lokals, welches in einer umgebauten Textilfabrik untergebracht ist. «Mein Reich ist aber nicht der Speiseraum, sondern die kleine Küche», sagt er schmunzelnd. Nerz ist Koch.
Unter Andy Rihs fand er sein Glück
Nerz brät ein Stück Rindfleisch an, man spürt seine Liebe zum Detail. Der Radsport ist in diesem Moment ganz weit weg. Dabei war er früher Profi. Nein, nicht nur das – Nerz galt für viele als kommender Star. «Nach dem Abitur unterschrieb ich meinen ersten Vertrag. Ein Traum – genau das hatte ich immer gewollt», so Nerz. Die Probleme folgten aber auf dem Fuss.
Weil sein deutsches Team Milram keinen Hauptsponsor mehr fand, heuerte er bei Liquigas an. In Italien war Nerz erstmals weit weg von zu Hause. «Das war hart», erinnert er sich. Erst 2013, nach seinem Wechsel zum Schweizer Team BMC von Patron Andy Rihs (1942–2018), genoss der starke Kletterer seinen Berufsalltag wieder. «Ich war in einem Team mit Michi Schär, ein super Typ. Alles war sehr familiär, ein Traum. Es war die beste Zeit meiner Karriere», so Nerz.
«Ich war krank»
Im Jahr 2015 ändert sich mit dem Wechsel zu Bora alles. «Ab da ging es nur noch bergab», so Nerz. Warum? Nach den Rängen 14 und 18 bei der Vuelta soll das Rad-Talent bei der Tour de France brillieren – die Teamleitung wünscht sich von ihrem Kapitän einen Top-10-Platz. Nerz spürt den Druck, denkt sich: «Je leichter ich bin, desto besser.» Die Folge? Er isst kaum noch, erbricht manchmal, steht viermal täglich auf die Waage. «Auch privat schottete ich mich ab, Freundschaften zerbrachen. Ich geriet nicht nur in einen Teufelskreis, sondern wurde auch zu einem anderen Menschen. Ich war krank.»
Die Magersucht kommt nicht alleine, auch Depressionen plagen Nerz. «Ich dachte nie an Selbstmord. Aber ich war ganz sicher auf einem sehr gefährlichen Pfad», sagt er. Ein weiteres Problem: Nerz stürzt mehrere Male, schlägt auch den Kopf an. Sein Körper ist so geschwächt, dass er sich kaum noch erholt. «Auch Schürfwunden heilten nicht mehr richtig.» Abgemagert und abgekämpft entscheidet er sich dazu, einen Arzt aufzusuchen. Dessen deutlich Worte gleichen einem Schlag ins Gesicht, retten Nerz aber vielleicht.
Die Tour schaut er zeitversetzt
Nerz versucht zwar noch einmal, aufs Rad zurückzukehren, tritt aber Ende 2016 zurück. «Ich wollte mein altes Leben zurück», erzählt er. Von einem Tag auf den anderen klappt dies nicht – Nerz muss seinen geschundenen Körper zuerst wieder aufpäppeln. «Die Abkehr von der Magersucht ist ein Prozess. Das war eine kritische Zeit – manchmal hatte ich Fressattacken, an einem anderen Tag brachte ich wieder kaum zwei Bissen runter.»
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Doch mit dem Ziel vor Augen hält Nerz durch, seine Familie hilft ihm überall. Und Nerz beginnt, mehr und mehr zu kochen. Er bringt sich selbst alles bei, studiert Nahrungsmittel, übt am Herd. Er findet die Freude am Leben wieder. «Das Kochen war eine Art Konfrontationstherapie – es hat mir sicher geholfen, meine Magersucht zu überwinden.»
Ein Rennrad hat Nerz seit Jahren nicht mehr angefasst. Er hat jetzt ein E-Mountainbike, das reicht. Bleibt die Frage: Wie verfolgt er die Tour de France? «Ich liebe den Radsport nach wie vor. Wenn ich nachts nach Hause komme, schaue ich mir die Rennen zeitlich versetzt an», sagt er. Und bittet schmunzelnd: «Sag mir also bitte nicht, wie die letzten zwei Etappen ausgegangen sind!»