Er ist der wohl talentierteste aller 148 gestarteten Fahrer bei der Tour de Romandie: Jan Christen (18). Der Aargauer wurde als Junior Radquer-Weltmeister, Europameister auf der Strasse und Vize-Weltmeister im Mountainbike. Er steht bis 2027 beim mächtigen Team UAE Emirates unter Vertrag, fährt derzeit aber für Swiss Cycling und erstmals bei den Profis. «Es ist richtig cool, erstmals World-Tour-Luft zu schnuppern.» Blick begleitet Christen während der zweiten Etappe von Morteau (Fr) nach La Chaux-de-Fonds NE während des ganzen Tages.
08.58 Uhr: Ragettli-Buch. «Kommt herein!», tönt es aus Zimmer 1010. Christen wohnt während der fünf Tour-Tage im Hotel Everness etwas ausserhalb der Stadt Genf. Der Wecker habe vor 20 Minuten geläutet, sagt er. «Und nun lese ich noch einige Seiten vor dem Zmorge.» In der Hand hält er die Biografie von Freeski-Weltmeister Andri Ragettli (24). «Er ist ein Vorbild für mich, denn er musste auch unten durch und hat sich stets zurückgekämpft», sagt Christen.
09.34 Uhr: Reis mit Tomatensauce. Beim Frühstücksbuffet lässt Christen die Spaghetti links liegen. «Ich hatte die letzten Tage Nudeln, jetzt brauche ich Abwechslung», sagt er schmunzelnd. Christen schaufelt sich einen Berg Reis auf den Teller. Dazu gibts Tomatensauce, Ananas und Orange. «Je mehr ich jetzt esse, desto weniger brauche ich danach», sagt er. Der Kalorien-Speicher ist gefüllt.
10.01 Uhr: Froome geht, Christen kommt. Draussen bei der Auffahrt reiht sich ein Teambus an den anderen – jeder ist mit TV, Kühlschrank, Dusche und Sofa ausgestattet. Die Ungetüme kosten zwischen 500’000 und 700’000 Franken. Als der vierfache Tour-de-France-Sieger Chris Froome (37, Gb) in einem davon verschwindet, kommt auch der 19 Jahre jüngere Christen angelaufen. «Eines Tages werde auch ich in der Lage sein, die Tour de France zu gewinnen», ist er überzeugt. Vorerst backt er kleinere Brötchen. Statt in einen Luxus-Car steigt er in den Verbands-Camper. «Macht nichts, ich freue mich so oder so darüber, hier zu sein», meint er vor dem zweistündigen Transfer nach Morteau.
12.35 Uhr: ungewohnter Funk. Auf einem schmucklosen Parkplatz leiten die Ex-Profis Michael Albasini (42) und Mathias Frank (36) die Teambesprechung. Sie sind die Sportlichen Leiter und instruieren die sieben jungen Schweizer (alle sind unter 26 Jahre alt) eine Viertelstunde lang. «Dazu können sie uns via Funk, während des Rennens, Anweisungen geben», sagt Christen. Dass das 62-Kilo-Leichtgewicht dies betont, kommt nicht von ungefähr – er fuhr bislang als Junior stets ohne Knopf im Ohr. «Schlecht finde ich das nicht, denn so fährt man mit Instinkt und hört genau auf seinen Körper.»
13.03 Uhr: keine halben Sachen. Christen wirkt bei der Team-Präsentation schüchtern, er hebt kurz die Hand, um das Publikum zu grüssen. Das Bild täuscht. Denn: Christen ist selbstbewusst und bereit, alles für seinen Traum Radprofi aufzugeben – auch die KV-Lehre, die bis Sommer 2024 gedauert hätte. «Die Belastung wurde zuletzt so gross, dass ich den Sport und die Lehre nicht kombinieren konnte. Nach Absprache mit meinem Trainer und meinen Eltern habe ich mich entschieden, auf den Radsport zu setzen.» Er wolle keine halben Sachen, so der Gippinger, sondern «in dem, was ich mache, erfolgreich sein». Gut zehn Minuten später startet er zu seinem dritten World-Tour-Rennen.
17.25 Uhr: rasante Fahrt. Auf den 162,7 Kilometer hinauf in den Hochjura ist Christen selten zu sehen. In der Schlussphase, beim Aufstieg zum Col de la Tourne (1157 Meter über Meer), muss er abreissen lassen. «Ich hatte nichts mehr zu trinken, meine Beine machten zu. Das war wirklich ärgerlich», berichtet er frustriert. Über die Abfahrten mit über 100 km/h meint er: «Da wurde rechts und links überholt, es war fast schon kriminell.»
19.50 Uhr: endlich Massage. Nach der Ankunft im Hotel springt Christen unter die Dusche. Kurz darauf geht er ins Zimmer von Physio Remco Broers – der Niederländer massiert ihn. «Damit die Beine morgen wieder parat sind.» Um 21.10 Uhr gehts zum Abendessen mit dem Team.
22.30 Uhr: Lichterlöschen. «Das war ein sehr langer Tag, auch wegen der langen Transfers», meint Christen. Klagen will er aber nicht. Christen hat genau das Leben, das er sich als Jugendlicher erhofft hatte.