Sie kommt kaum aus den Startblöcken und liegt schon weit hinter ihren Gegnerinnen. Doch dann nimmt sie Tempo auf, rennt wenige Meter vor dem Ziel des 100-Meter-Laufs auf Rang vier, vor ihr die Italienerin Federica Maspero. «Diese Medaille gehört mir», denkt sich Abassia Rahmani. Federnden Schrittes fliegt sie dem Ziel entgegen und fängt die Einheimische bei der EM in Grosseto, einem kleinen Städtchen in der Toskana, noch ab. Bronze in 14,78 Sekunden – ihr bisher grösster Erfolg.
Bundesrat Ueli Maurer gratuliert zu EM-Bronze
Zurück in der Schweiz wird sie am Flughafen in Empfang genommen. Sie posiert für ein Bild mit Bundesrat Ueli Maurer und ihre Gemeinde Wila ehrt sie im Juli für ihre Leistungen. Doch die grösste Belohnung folgt erst später: Abassia Rahmani darf nach Rio de Janeiro. Noch zu Jahresbeginn war das undenkbar. Die A-Limite wurde auf 14,10 Sekunden angesetzt, ihre Bestzeit 14,33 Sekunden. Jetzt hat die Winterthurerin mit algerischen Wurzeln ihre Bestzeit auf 13,79 Sekunden gesenkt.
Rückblende. Ein Tag im Jahr 2009. Abassia Rahmani turnt, fährt Snowboard und macht eine kaufmännische Lehre. Sie lebt das Leben einer ganz normalen Jugendlichen. Schnupfen, eine Erkältung, Gliederschmerzen. Alles halb so schlimm, denkt sich die damals 16-Jährige. Sechs Wochen später erwacht sie aus dem Koma – ohne Unterschenkel. Diese hatten ihr wegen einer schweren Viruserkrankung amputiert werden müssen, um ihr Leben zu retten.
«Am Anfang ging es mir schlecht. Ich wollte nicht, dass meine Freunde mich so sehen. Einmal war ich mit ihnen im Skiurlaub und als ich noch geschlafen habe, haben sie meine Beine draussen in den Schnee gesteckt, was natürlich sehr skurril aussah. Sie haben mich gerufen und gesagt, schau mal und fanden es total lustig. Da wusste ich, sie gehen locker damit um. Das hat mir sehr geholfen», erinnerte sich Rahmani einst an die ersten Wochen und Monate nach dem Schicksalsschlag.
Zunächst konzentriert sie sich auf den Lehrabschluss. Erst 2014 rückt der Spitzensport in den Fokus. Dann besucht Rahmani einen Workshop des Deutschen Heinrich Popow, 100-Meter-Sieger bei den Paralympics in London. «Er hat mir Federn aus Karbon druntergeschraubt und gesagt ‹probiere es Mal aus.›» Es ist der Anfang ihrer Karriere. «Ich fühlte mich mit den Federn wie auf Wolken», erklärte sie im Sommer. Bei den Spielen in Rio strebt sie die Final-Qualifikation mit härteren Federn an.
Um 15 Uhr Feierabend – und dann ab ins Training
Heute trainiert sie sechs Mal wöchentlich, zwölf Stunden in der Woche. Training sei für sie wie arbeiten. Ihr 70-Prozent-Pensum erlaubt es ihr, um 15 Uhr Feierabend zu machen. Durch den Sport habe sie die Leichtigkeit von vor der Operation zurückerhalten. Als Mensch habe sie sich nicht verändert, aber ihr Leben gehe sie bewusster an. Quälende Fragen nach dem Warum blendet sie aus. «Das führt zu negativen Gedanken. Mein Motto ist, nach vorne schauen, alles geben.»
Beim Sport würden die Menschen sehr offen mit ihren Prothesen umgehen. «Sie sehen, dass ich aktiv bin und mich nicht in meinem Schneckenhaus verkrieche. Aber am besten ist es mit Kindern. Die sind sehr interessiert und sehen mich als Superheldin. Sie fragen mich, woher ich meine Beine habe und sagen, dass sie auch solche wollen.» Zu den Medaillenkandidatinnen gehört Abassia Rahmani (24) in Rio zwar noch nicht. Eine Siegerin ist sie aber trotzdem.