Blick: Die nächsten Olympischen Spiele sind gemäss IOC immer die besten aller Zeiten. Gilt das auch für die Paralympics, die 50 Tagen in Paris starten?
Lukas Christen: Paris wird sicher gut, weil sich viele Verbände sehr gut entwickelt haben. Was zum Beispiel in Deutschland oder England passiert, ist phänomenal. Da wird massiv in Trainingslehren und in die Sportwissenschaft investiert.
Droht der Schweiz, den Anschluss zu verlieren?
Ja, und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist ein wunderbarer: Die Schweiz hat ein Nachwuchsproblem.
Liegt das am mangelhaften Scouting oder gibts tatsächlich weniger Beeinträchtigte?
Das Scouting ist sogar sehr gut. Doch die Suva bei der Arbeitssicherheit und das BFU bei der Unfallverhütung machen einen spürbar guten Job. Wir haben weniger Unfallopfer. Zudem haben wir keine Soldaten wie etwa in den USA, die verletzt aus Kriegen zurückkommen. Das ist natürlich schön, hat aber die erwähnten Auswirkungen.
Der 58-jährige Zentralschweizer hätte eigentlich als Fussballer Karriere gemacht. Dem Aarau-Spieler lag ein Angebot von GC vor, als er mit 21 Jahren bei einem lebensbedrohlichen Töffunfall sein linkes Bein verlor. Die geplatzte Fussballkarriere wurde zur Nebensache. Als Christen begann sich im neuen Leben zurechtzufinden, wurde auch Sport wieder ein Thema. «Am Anfang konnte ich mit Behindertensport nichts anfangen. Doch als ich die Paralympics 1988 verfolgt habe, dachte ich mir: das kannst du besser!»
Parallel zum Wirtschaftsstudium wird er als Sprinter und Weitspringer zu einem der weltbesten Behindertensporter. Christen nimmt 1992, 1996 und 2000 an den Paralympics teil und holt fünfmal Gold. Er sammelt auch fünf WM-Titel und stellt immer wieder Weltrekorde auf. Nach dem Rücktritt bleibt Christen dem Sport erhalten, er hat als Unternehmensberater, Key-Note Speaker, Management- und Führungscoach immer wieder Mandate bei Fussball- und Eishockey-Profiklubs sowie von Einzelsportlern. Die Paralympics 2024 in Paris begleitet Christen als Blick-Experte.
Der 58-jährige Zentralschweizer hätte eigentlich als Fussballer Karriere gemacht. Dem Aarau-Spieler lag ein Angebot von GC vor, als er mit 21 Jahren bei einem lebensbedrohlichen Töffunfall sein linkes Bein verlor. Die geplatzte Fussballkarriere wurde zur Nebensache. Als Christen begann sich im neuen Leben zurechtzufinden, wurde auch Sport wieder ein Thema. «Am Anfang konnte ich mit Behindertensport nichts anfangen. Doch als ich die Paralympics 1988 verfolgt habe, dachte ich mir: das kannst du besser!»
Parallel zum Wirtschaftsstudium wird er als Sprinter und Weitspringer zu einem der weltbesten Behindertensporter. Christen nimmt 1992, 1996 und 2000 an den Paralympics teil und holt fünfmal Gold. Er sammelt auch fünf WM-Titel und stellt immer wieder Weltrekorde auf. Nach dem Rücktritt bleibt Christen dem Sport erhalten, er hat als Unternehmensberater, Key-Note Speaker, Management- und Führungscoach immer wieder Mandate bei Fussball- und Eishockey-Profiklubs sowie von Einzelsportlern. Die Paralympics 2024 in Paris begleitet Christen als Blick-Experte.
Sie hatten noch einen zweiten Grund erwähnt.
Ich rede vom Material. Wo es Zugang zu Ressourcen gibt, werden die Leistungen wegen des Materials besser, gerade bei den Standings (Disziplinen mit Beinprothesen, Anm. d. Red.). Leider ist es so, dass zuweilen ein Athlet nicht mal austrainiert ist, doch dank guten Materials an der Spitze läuft. Das ist ein Umstand, den sich kaum jemand anzusprechen getraut.
Ist Kritik im Behindertensport nicht erlaubt?
Es ist doch so: Wir stehen unter Denkmalschutz. Ich habe in 30 Jahren kaum öffentliche Kritik erlebt. Doch in der Szene gibt es immer mehr Stimmen, die finden: Damit kommen wir nicht weiter. Es müssen auch unbequeme Themen angesprochen werden können.
Welche Themen sind das?
Mehrere. Ein Problem ist die mediale Darstellung. Es gibt Unfrieden darüber, wie das Thema Behindertensport wahrgenommen wird. Die Paralympians wollen als Top-Athleten behandelt werden und nicht als Aufhänger für ein politisches Thema.
Was sind weitere Brandherde?
Die Abgrenzung von den Special Olympics (Spiele für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, Anm. d. Red.). Es gibt Bestrebungen, im Namen der Inklusion, die Special Olympics auf die Stufe der Paralympics zu heben. Doch die Paralympians sehen sich als eigenständige Bewegung, die über Leistung und Wettbewerb wahrgenommen wird, nicht über den Inklusionsgedanken.
Nun redeten Sie selber aber eingangs davon, dass es zuweilen Prothesen sind und nicht die Fitness, die zu Topleistungen verhelfen.
Deshalb muss das Thema angepackt werden. Technische Sportarten müssen nivelliert werden. Das ist etwa in der Formel 1 bereits der Fall. Dahin müssen wir auch im Behindertensport kommen. Es bräuchte ein, zwei Prothesenhersteller, die standardisiertes Material liefern.
SRF wird täglich von 18.45 Uhr bis 22 Uhr trimedial über die Paralympics berichten. Star-Youtuber Jahn Graf und SRF-Mann Olivier Borer werden dafür gemeinsam im Studio in Zürich moderieren und in jeder Sendung einen anderen Talkgast aus Sport, Politik oder Unterhaltung haben.
News-Moderatorin Bigna Silberschmidt realisiert als Reporterin täglich Schaltungen und Hintergrundgeschichten zum Thema Inklusion in Paris und der Schweiz. Der Live-Sport mit Schweizer-Beteiligung oder paralympischer Vielfalt wird von den Kommentatoren Beat Sprecher und Stefan Hofmänner sowie SRF Parasport-Experten Christoph Kunz begleitet. Zusätzlich kommen je nach Sportart weitere Experten zum Einsatz.
Auch auf der SRF-Sport-Website, in der App und im Radio berichtet SRF täglich und mit Hintergrund-Rubriken wie der Para-Challenge mit Christoph Muggler. (red)
SRF wird täglich von 18.45 Uhr bis 22 Uhr trimedial über die Paralympics berichten. Star-Youtuber Jahn Graf und SRF-Mann Olivier Borer werden dafür gemeinsam im Studio in Zürich moderieren und in jeder Sendung einen anderen Talkgast aus Sport, Politik oder Unterhaltung haben.
News-Moderatorin Bigna Silberschmidt realisiert als Reporterin täglich Schaltungen und Hintergrundgeschichten zum Thema Inklusion in Paris und der Schweiz. Der Live-Sport mit Schweizer-Beteiligung oder paralympischer Vielfalt wird von den Kommentatoren Beat Sprecher und Stefan Hofmänner sowie SRF Parasport-Experten Christoph Kunz begleitet. Zusätzlich kommen je nach Sportart weitere Experten zum Einsatz.
Auch auf der SRF-Sport-Website, in der App und im Radio berichtet SRF täglich und mit Hintergrund-Rubriken wie der Para-Challenge mit Christoph Muggler. (red)
Benötigt nicht auch der ganze Sport eine Standardisierung? Die Disziplinen mit den vielen Graden der Schwere der Beeinträchtigungen sind ein Dschungel.
Da ist aber bereits viel verbessert worden. Zu meiner Zeit gab es 13 Finals im 100-Meter-Lauf! Jetzt wurde einiges zusammengefasst. Den Weitsprung zum Beispiel gibts nur noch als zusammengelegte Kategorie, einfach mit einem Koeffizienten. Und der 200-Meter-Lauf wurde ganz gestrichen.
So tritt eine einseitig Unterschenkelamputierte gegen eine Gegnerin mit zwei Prothesen an. Ist das fair?
Eine Gegenfrage: Ist es bei den Nichtbehinderten fair, wenn zum Beispiel im Hochsprung ein 1,95-Meter-Mann gegen einen 1,79-Meter-Mann antritt? Der Reiz, vermeintliche Nachteile zu kompensieren, macht den Sport doch aus. Abgesehen davon ist eine Doppelunterschenkel-Amputierte mit gutem Material wahrscheinlich sogar im Vorteil. Doch die Klassifizierung, also die Frage, wer mit welcher Behinderung in welcher Klasse starten darf, erregt oft den Unmut der Athleten, weil vieles fragwürdig bleibt.
Wenn Sie so reden, könnten die besten Behindertensportler ja auch gleich gegen Nicht-Behinderte antreten. Einverstanden?
Stopp! Das wäre ein Desaster für die Marke Paralympics. Das habe ich auch Markus Rehm geschrieben, der diese gloriose Idee hatte (Der deutsche Weitspringer wollte sich an die regulären Spiele von Tokio klagen, Anm. d. Red.). Es ist das völlig falsche Signal, wenn der Star der Paralympics findet, diese Spiele genügen ihm als Auftrittsort nicht. Zudem ist absolut klar: Seine Weiten erreicht er nicht nur wegen seiner Top-Athletik, sondern eben auch dank des Top-Materials. Doch warum nicht regelmässig ein Start ausser Konkurrenz, quasi exklusiv, statt inklusiv?
Woran denken Sie?
Der Paralympics-Sieger im Weitsprung als zusätzliche Attraktion im Programm von Weltklasse Zürich oder dem Meeting in Luzern. Doch da sind wir bereits wieder bei einem heiklen Thema.
Das wäre?
Der Grat für einen Imageschaden ist schmal. Angenommen, ein Behindertensportler darf zum Beispiel als Exhibition an einem Diamond-League-Meeting ran. Wenn die Paralympians als Spitzensportler ernst genommen werden wollen, muss das in erster Linie über austrainierte Athleten geschehen und nicht über Top-Material. Und diesbezüglich hat es oft merklich Luft nach oben. Leider werden solche Themen oft ausgeblendet. Es geht im Spitzensport der Behinderten zu wenig um die Leistung. Deshalb müssten die grossen Figuren wie Marcel Hug in dieser Hinsicht klarer vermarktet werden. Und da schliesst sich der Kreis zur Art, wie die Medien die Paralympics präsentieren.
Was im paralympischen Sport auffällt, ist das oft enorme Leistungsgefälle. Ist die Spitze zu dünn?
Tatsächlich ist das in der Szene auch ein riesiges Thema. Ich selber fahre inzwischen ziemlich gut Snowboard. Ich hätte eine Qualifikation für Cortina 2026 ins Auge fassen können. Doch was denkt man über einen Extrem-Sport, bei dem 60-Jährige zur Weltspitze gehören: Ist der Para-Gruftie so aussergewöhnlich gut, oder ist die Sportart so schwach besetzt? Anders ist es in der Leichtathletik, insbesondere den Rollstuhlrennen. Dort ist die Spitze inzwischen enorm breit und der Wettbewerbsdruck riesig.
Gibts eine Lösung, auch ausserhalb der Rollstühle mehr Konkurrenz zu kriegen?
Theoretisch ja. Es ist ein Traum von mir, dass vor allem in Afrika und Asien professionellere Strukturen für den Behindertensport aufgebaut würden. Das Potenzial ist enorm. Aber Illusionen mache ich mir keine, weil sogar in Länder wie den USA die Sportler grösstenteils auf sich alleine gestellt sind. Da landen wir auch beim Thema Doping.
Warum?
Zu meiner Aktivzeit entschuldigen sich einzelne Nordamerikaner bei mir, dass sie gedopt starten. Ohne gute Ausbildung und ohne staatliche Unterstützung erschien es ihnen als einzige Chance, dank einer Paralympics-Medaille bessere Perspektiven fürs Leben zu bekommen. Doch die Dopingkontrollen sind genauso streng wie im gewöhnlichen Sport. Aktuell habe ich aber niemanden in Verdacht. Grossflächig gedopt wird wohl erst, wenn es kommerziell interessant wird. An diesem Punkt sind wir noch lange nicht.