Vor 30 Jahren verunglückte sie tödlich
Die berührende Lebensgeschichte von Para-Sportlerin Daniela Jutzeler (†27)

Daniela Jutzeler war der erste weibliche Parasport-Star der Schweiz. Doch dann schlug das Schicksal 1994 ein zweites Mal gnadenlos zu. Hier erinnern sich ihre Eltern Doris und Paul an die Tage, die ihr Leben für immer verändert haben, aber auch an die schönen Momente.
Publiziert: 30.08.2024 um 13:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.08.2024 um 15:44 Uhr
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Sie war der erste weibliche Parasport-Star der Schweiz: Daniela Jutzeler.
Foto: Si

Auf einen Blick

  • Daniela Jutzeler: erste prominente Rollstuhlsportlerin der Schweiz
  • Verunglückte 1994 bei einem tragischen Unfall mit einem Lieferwagen
  • Gewann vier Medaillen bei den Paralympics und stellte Weltrekorde auf
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Daniel LeuStv. Sportchef

Wer Doris und Paul Jutzeler in ihrem Zuhause im luzernischen Littau besucht, der sieht sofort: Ihre Tochter Daniela ist hier noch allgegenwärtig. Überall verteilt hängen Fotos von ihr. Daniela beim Reiten, Daniela in den Ferien auf Elba, Daniela mit ihrer Perserkatze Nils, Daniela als Rollstuhlsportlerin. Daniela mit ihrem Vogel Maxli. Hinzu kommen zahlreiche Bilder, die sie einst selbst gemalt hat.

«Es vergeht seit 30 Jahren kein Tag, an dem wir nicht an sie denken», erzählen die 80-jährige Mutter Doris und der 83-jährige Vater Paul am Wohntisch. Am 5. August 1994 wurde die damals 27-jährige Daniela bei einem schrecklichen Unfall jäh aus dem Leben gerissen. Warum die Eltern hier gerne über ihre Tochter reden? Damit sie nicht in Vergessenheit gerät, denn Daniela war ein besonderer Mensch mit einer aussergewöhnlichen Lebensgeschichte. Und sie war die erste prominente Rollstuhlsportlerin der Schweiz.

Daniela war ein aufgestelltes und liebes Kind. Als sie vier Jahre alt war, zog die Familie vom Glarnerland nach Littau. Unten die Metzg, die der Vater führte, oben die Wohnung, in der Doris und Paul bis heute wohnen. Paul: «Einmal kam sie nach Hause und sagte: ‹Papa, die Bueben plagen uns immer.› Da zeigte ich ihr, wie ein Hüfter geht. Danach wurde sie in Ruhe gelassen.» Doris: «Daniela war eine Hübsche, die Buben haben ihr immer nachgepfiffen. Sie trug damals eine Frisur wie Kim Wilde. Während der Pubertät stieg sie abends oft heimlich aus dem Fenster raus, um in den Ausgang zu gehen.»

Die Familie Jutzeler mit Tochter Daniela und den jüngeren Brüdern Remo und Martin war glücklich. Sie verreisten oft auf die Insel Elba in die Ferien. Sie gingen in ihrer alten Heimat Glarus wandern. Oder im Sommer häufig baden. Bis zum 5. April 1985. Ein Tag, der das Leben der ganzen Familie für immer verändern sollte.

«Ich realisierte sofort, was mit mir geschehen war: Querschnittlähmung»

Man spürt es sofort: Doris und Paul Jutzeler fällt es noch heute schwer, über diesen verhängnisvollen Ostersonntag von vor 39 Jahren zu reden. Daniela hatte damals ihre grosse Liebe Thomy gefunden und absolvierte bei einem Liegenschaftsverwalter eine KV-Lehre.

Während Paul erzählt, was damals passiert ist, gerät seine Stimme ins Stocken, und seine Frau steht auf und geht in die Küche. «Wir wollten nach Andermatt Ski fahren gehen. Am Vorabend war s’Dani noch lange im Ausgang. Deshalb war sie müde und wollte zuerst nicht mitkommen. Ich habe ihr dann gesagt, es sei doch so ein schöner Tag, und schaffte es, sie zu überreden.

Was dann genau geschah, schrieb Daniela später in ihrer Biografie nieder: «Ich zog den Skianzug aus dem Schrank der Eltern. An der Hinterwand war ein Leichtgewehr angelehnt. Das Gewehr bleibt am Anzug hängen und fällt zu Boden. Beim Aufheben löst sich mit einem schrillen Knall ein verklemmter Schuss. Ich spüre einen stechenden Schmerz, schreie auf und falle schlagartig zu Boden. Mit der Kugel im Rücken auf dem kalten Boden liegend, realisierte ich sofort, was mit mir geschehen war: Querschnittlähmung.»

Vater Paul: «Wir hörten einen Schuss und rannten sofort zu ihr. Als ich sie dann am Boden liegen sah, war das ein schreckliches Bild, das man nie mehr vergisst. Meine Frau rief dann gleich die 144 an.» Beim Unfall hatte die Kugel Danielas Rückenmark und Lunge getroffen. «Im Spital gab es dann noch Komplikationen», erzählt Paul, «sie war praktisch tot.»

Von heute auf morgen alles anders

Es ist still geworden im Hause Jutzeler. Vater Paul hat mit den Tränen zu kämpfen, denn es war sein Gewehr, das seine einzige Tochter beinahe getötet hätte und sie querschnittgelähmt in den Rollstuhl gebracht hat. «Später habe ich ihr mal gesagt: ‹Dani, wenn du gestorben wärst, dann hätte ich vielleicht meinem Leben ein Ende gesetzt.› Da wurde sie so richtig wütend und hat mich angeschrien. Dass sie mir nie die Schuld gegeben hat, das hat mir sehr geholfen.»

In ihrer Biografie beschreibt Daniela die ersten Tage nach der Tragödie. «Eine einzige Sekunde, ein Moment, warf alles durcheinander. Mit einem Schlag kam mein Leben völlig unerwartet zu einem Stopp. Einem Vollstopp. Die schrecklichen Momente nach dem Unfall werden ewig in Erinnerung bleiben. Die totale Verzweiflung damals. Wie unwirklich die Situation mir erschien. Es war, als ob jemand in einem Schnellzug die Notbremse gezogen hätte. Alles stand still.»

Von heute auf morgen war alles anders. Daniela damals: «Keine Chance mehr, sich ohne Fremdhilfe im Bett aufzurichten. Vom Bauchnabel an fehlt jedes Gefühl. Ich kam mir vor wie ein halber Mensch – einfach amputiert. Es gibt nichts mehr, das man noch alleine tun kann. Nicht waschen, nicht essen, nicht allein im Bett umdrehen. Nichts. Man wird wieder ins Babystadium zurückversetzt. Und da war auch die gestörte Intimsphäre. Man liegt fast nackt im Bett. Darm und Blase funktionieren nicht mehr. Plötzlich stinkt es, dann schaut man unter die Bettdecke und hat ins Bett gemacht, ohne es zu merken.»

Daniela tröstete ihre Eltern – und nicht umgekehrt

In jenen Tagen zeichnete sich aber auch schnell einmal ab, was für einen Charakter Daniela hatte und was sie auch später als erfolgreiche Rollstuhlsportlerin auszeichnen sollte: ihr positives Denken und ihren Ehrgeiz. Aufgeben war für sie nie eine Option. Doris: «Es gab Momente, in denen sie uns tröstete und nicht umgekehrt.» Paul: «Als ihr damaliger Freund sie im Spital besuchte und beim Anblick von ihr zusammenklappte, sagte sie nur: ‹Jetzt ist der Thömu wegen mir noch ohnmächtig geworden›, und tröstete ihn. Jahre später sagte sie mir mal: ‹Wenn ich jetzt innerhalb von einer Sekunde entscheiden müsste, ob ich wieder laufen kann, weiss ich nicht, ob ich das möchte.› Ich habe sie während der ganzen Rehabilitation nur einmal weinen gesehen. Das war, als sie anderen beim Basketballspielen zugeschaut hatte und sagte, das habe sie früher auch sehr gerne gemacht.»

Der Sport, er wurde nach dem Unfall immer wichtiger für Daniela. Paul: «Basketball war die erste Sportart, die sie im Rollstuhl ausgeübt hatte. Als sie dabei das erste Mal einen Korb traf, rief sie gleich meine Frau an und erzählte es ihr.»

Später wurde aus Daniela die erfolgreichste Para-Leichtathletin der Schweiz. Sie gewann an den Paralympics vier Medaillen, sie wurde zweifache Weltmeisterin, stellte Weltrekorde auf und siegte unter anderem an den Marathons von Berlin, Montreal, Frankfurt und Paris.

Und auch privat war sie glücklich. Sie lebte zeitweise in den USA, hatte einen Freund und träumte von einem Baby. Nicht zu Unrecht heisst ihre Biografie «Vergesst den Rollstuhl, nehmt mein Lachen». Doch am 5. August 1994 schlug das Schicksal ein zweites Mal gnadenlos zu.

Sah sie ihren Tod voraus?

Im Wohnzimmer der Familie Jutzeler ist es zum zweiten Mal an diesem Montagnachmittag leise geworden. Auch nach 30 Jahren wühlt verständlicherweise der Tod ihrer Tochter Doris und Paul noch immer auf. «Sie war damals so glücklich», erzählen die beiden.

Das sah man auch in einem Beitrag von «Schweiz aktuell», der wenige Wochen vor ihrem Tod ausgestrahlt wurde. Darin erzählte sie von ihren sportlichen Zielen und Träumen im Leben. Und sie wurde auch gefragt, ob sie beim Trainieren manchmal Angst habe. Ihre Antwort: «Ich suche mir die Strecken so aus, dass es vertretbar ist. Es gibt aber schon ab und zu einen Autofahrer, der nah an einem vorbeifährt.»

Als ob sie es geahnt hätte, wurde ihr eine solche Trainingsfahrt am 5. August 1994 zum Verhängnis. Auf der Strecke zwischen Littau und Malters wurde sie von einem Lieferwagen, in dem drei junge Pfadfinder sassen, abgeschossen. Der Fahrzeuglenker, übernächtigt von einem Lager, war offenbar eingeschlafen. Daniela flog 40 Meter durch die Luft und hatte keine Überlebenschance.

Das Tragische daran: Die Brüder von Daniela wollten sie an jenem Tag noch vom Training abhalten, da es sehr heiss war. «Doch sie war stur und wollte unbedingt trainieren, weil sie zuvor an der WM die Medaillen verpasst hatte. Sie hatte halt einen richtigen Jutzeler-Grind», erzählt der Vater.

Doch von all dem bekamen Doris und Paul Jutzeler zuerst gar nichts mit. Sie waren das erste Mal seit Jahren wieder richtig in den Ferien, auf der Karibikinsel Saint Lucia. «Als wir in Kloten ankamen, wurden wir von Kollegen, unserem ältesten Sohn und Polizisten in Empfang genommen. Dann wurde uns erzählt, was passiert ist», erinnert sich der Vater. Und Mutter Doris ergänzt: «Wir haben das aber zuerst gar nicht richtig verstanden. Dann gab uns der Doktor Pillen.» 

Die Identifizierung von Daniela übernahm Sohn Martin. Paul: «Man sagte uns, es sei besser, wenn wir sie nicht sehen. Wir sollen sie so in Erinnerung behalten, wie wir sie kannten. Und auch die Bilder des Unfalls hat man uns aus Rücksicht nie gezeigt.»

«Vielleicht hätte sie uns einen Enkel geschenkt»

Das viele Reden hat Doris und Paul Jutzeler aufgewühlt und müde gemacht. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sie mit diesem Schicksalsschlag bis heute umgehen und wie Pauls Augen funkeln, wenn er von seiner Dani erzählt. Auch gegenüber dem Unfalllenker hegten sie nie Groll. Paul: «Er hat uns später mal einen Entschuldigungsbrief geschrieben. Doch wir waren nie hässig auf ihn, wir hatten eher Erbarmen mit ihm, denn auch s’Dani wäre nicht böse auf ihn gewesen. Sie hat ja auch mir den Unfall mit dem Gewehr verziehen.»

Mutter Doris: «In den ersten Jahren nach ihrem Tod habe ich nichts mehr ertragen. Wenn zum Beispiel im Restaurant nebenan die Musik laut spielte, bin ich beinahe durchgedreht. Heute bin ich innerlich ruhiger. Ich glaube zwar nicht dran, aber vielleicht war es einfach Gottes Wille, und vielleicht ist ihr dadurch auch einiges erspart geblieben. Mit solchen Gedanken tröste ich mich bis heute.»

Was würde Daniela wohl heute machen? «Eine gute Frage. Was genau, wissen wir nicht, aber sie wäre auf jeden Fall glücklich. Und vielleicht hätte sie uns ja einen Enkel geschenkt.»

Während Paul Jutzeler das sagt, muss er sich eine Träne aus den Augen wischen.

Hinweis: Dieser Artikel erschien Anfang August 2024 zum ersten Mal.

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