Einer der legendärsten Momente der deutschen TV-Geschichte passierte 1971. Da sass Johnny Weissmüller, der als Tarzan-Darsteller in den Dreissigern und Vierzigern weltberühmt wurde, am Samstagabend im «Aktuellen Sportstudio» im ZDF-Studio – zusammen mit seiner Ehefrau Maria Baumann und dem Schimpansen Cheetah. Es ging gerade darum, dass Johnny Junior auch ein guter Schwimmer sei, zudem sehe er seinem Vater ähnlich … da riss Cheetah der guten Frau die blonde Perücke vom Kopf. Johnny Senior lachte laut heraus, auch seine Frau nahm es mit Humor. Eine Szene, die man sich auf Youtube auch heute noch gerne ansieht.
Johnny Weissmüller war nicht nur ein lustiger Kerl und kräftiger Tarzan, er war vor allem ein sensationeller Schwimmer. Der Erste, der 100 Meter Crawl unter einer Minute schaffte. 1924 gewann er bei Olympia in Paris drei Goldmedaillen im Schwimmen und Bronze im Wasserball. Später kamen noch zwei Goldmedaillen dazu.
Siege und Dramen der Superstars
Neben Johnny Weissmüller war Paavo Nurmi vor 100 Jahren der Superstar der Spiele. In Paris gewann der finnische Ausnahmeläufer fünf Goldmedaillen. Darunter die über 5000 Meter, die er sich 50 Minuten nach dem Sieg über 1500 Meter erlief. Beide Superstars von damals sind längst tot. Weissmüller wurde 1979 bevormundet und in ein Altersheim für verarmte Hollywoodschauspieler eingewiesen. Er starb 1984 nach mehreren Schlaganfällen in Acapulco (Mexiko).
Nurmi wurde vom IOC 1932 lebenslänglich gesperrt, weil er den Amateurstatus missachtet hatte. Der Vorwurf lautete, dass er zu viel Geld für Reisekosten genommen habe. Nurmi versank in Verbitterung. Halbseitig gelähmt, beinahe blind, gezeichnet von Depressionen, starb der Finne 1973 in Helsinki. Insgesamt hatte er als Läufer neun Goldmedaillen gewonnen.
Drei davon 1924 im Stade Olympique Yves-du-Manoir in Colombes, zehn Kilometer nordwestlich des Pariser Stadtzentrums. Das war damals der Hauptveranstaltungsort der Spiele und bot 45'000 Zuschauern Platz. 100 Jahre später wird hier wieder um olympische Meriten gekämpft – im Feldhockey. Das Stadion wurde für diesen Anlass für über 100 Millionen Euro umgebaut und bietet 15'000 Sitzplätze. Der Naturrasen wurde durch ein Hockeyfeld mit blauem Kunstrasen ersetzt.
Geburt des olympischen Dorfes
Rund neun Kilometer von diesem Stadion entfernt steht heute das olympische Dorf. Es ist so gross, dass es sich über drei verschiedene Gemeinden erstreckt – Saint-Denis, Saint-Ouen und auf der Île-Saint-Denis vor den Toren von Paris. Dort werden 25'000 Athleten erwartet: 14'500 während Olympia und 9000 während der anschliessenden Paralympics, ausgestattet mit allem Komfort, den man sich als Sportler wünschen kann.
Mehr Olympia-Storys
Das war vor 100 Jahren noch ganz anders. Zum ersten Mal waren die Sportler damals in einem olympischen Dorf untergebracht. Es gab ein paar Holzbaracken, einen Friseur und einen Postschalter für Briefe und Telegramme. Etwas mehr als 3000 Athleten, darunter vier Prozent Frauen, zogen ein. 1900, bei den ersten von drei Olympischen Spielen in Paris, gab es unter den 997 Teilnehmenden 22 Frauen (2,2 Prozent). Damals waren Frauen überhaupt zum ersten Mal bei Olympia zugelassen. Dieses Jahr werden Frauen und Männer in Gleichzahl sein: gleich viele Athletinnen wie Athleten, gleich viele Disziplinen, gleich viele Medaillensätze. Das IOC setzt gendergerechte Massstäbe und bringt so die anderen Sportverbände in Zugzwang.
Die Schweizer Delegation wird rund 120 Sportler umfassen. Vor 100 Jahren waren es 127, darunter fünf Frauen. Vor allem im Turnen räumten wir mit zwei Gold-, zwei Silber- und drei Bronzemedaillen richtig ab. Die weiteren Goldmedaillen gewannen wir im Rudern, Ringen und im Reiten. Insgesamt gab es für die Schweiz siebenmal Gold. Dazu kamen acht Silber- und zehn Bronzeplätze. Wobei die Bedeutung der zweiten und dritten Plätze damals ungleich geringer war als heute.
Schweizer Fussballwunder
Trotzdem wurden die helvetischen Fussballer bei der Rückkehr aus Paris in Basel mit einem grossen Empfang geehrt. Fussball war damals noch die wichtigste Sportart bei den Olympischen Spielen, da es noch keine Weltmeisterschaften (erst ab 1930) und keine Europameisterschaften (ab 1960) gab. Die Schweiz schaffte es sensationell in den Final, wo sie von Uruguay besiegt wurde.
Niemand hätte vor dem Turnier an einen solchen Exploit geglaubt. Das Hotel wurde darum nur bis zum Achtelfinal gebucht, das Zug-Rückfahrtbillett lief nach zehn Tagen bereits ab. Den Schweizern um Stürmerstar Max «Xam» Abegglen, dem Namensgeber von Neuchâtel Xamax, drohte in Paris das Geld auszugehen, nur eine Spendenaktion im eigenen Land rettete das Olympia-Abenteuer und damit die Silbermedaille. Weil die Schweiz das bestklassierte europäische Land war, durfte sie sich auch Europameister nennen. Diesen Sommer wird die Schweiz im Fussball nicht bei Olympia dabei sein. 2023 verpasste die U21 an der EM die Qualifikation für Paris 2024.
Das Pech des Schweizer Weltrekordlers
Die USA, im Jahr 1924 die dominierende Nation, holten 99 Medaillen. Eine solche wollte auch der Schweizer Leichtathlet Joseph Imbach gewinnen. Im Halbfinal über 400 Meter legte er los, als würde er von einem hungrigen Tiger verfolgt. In 48,00 Sekunden legte der Luzerner einen neuen Weltrekord auf die Bahn. Im Final präsentierte er sich jedoch in desolatem Zustand. Er übergab sich vor dem Start, taumelte, stürzte auf der Zielgeraden und schleppte sich schliesslich als Letzter im Sechserfeld über die Ziellinie. Eine Omelette hatte ihm am Finaltag den Magen verdorben.
Der 1894 in Lyss geborene Imbach war nicht nur ein guter Leichtathlet, er gewann auch Radrennen, spielte als Stürmer bei Kickers Luzern in der höchsten Fussballliga und galt in seiner Blütezeit als Schweizer Ausnahmesportler. Er starb 1964, drei Monate vor seinem 70. Geburtstag, vergessen und verarmt.
Wendepunkt der Sportgeschichte
1924 gilt allgemein als Wendepunkt der Sportgeschichte. Zum ersten Mal erreichten die Wettkämpfe weltweite Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal berichtete ein Radiojournalist von einem Korb im Luftballon aus live über die Spiele. Über 1000 Journalisten waren angereist, um über die Wettkämpfe zu berichten. Es gab die ersten Zuschauerausschreitungen: Anhänger des französischen Rugbyteams gingen auf amerikanische Zuschauer los, Tausende stürmten das Spielfeld. Damals reifte die Erkenntnis, dass die Athleten besser geschützt werden müssen.
2024 sollen in Paris täglich bis zu 45'000 französische Polizisten und Gendarmen eingesetzt werden. Zudem werden 18'000 Soldaten mobilisiert und etwa 20'000 private Sicherheitskräfte im Einsatz stehen. Die Olympischen Spiele und die Fussball-WM gelten längst als grösste Sportereignisse der Welt. Paris wird im Juli und im August einem Hochsicherheitstrakt gleichen. Die Terrorgefahr ist riesig – übertroffen nur von der Hoffnung der Menschen auf friedliche Spiele.