Tokio hat wieder die höchste Viren-Alarmstufe Rot ausgerufen: Vier Tage lang zählte die Hauptstadt jeweils fast 300 positive Coronatests, deutlich mehr als während des Notstandes im April. Trotz Hitze nehmen die Hauptstädter ihre Masken gar nicht mehr ab, in vielen Geschäften und Restaurants herrscht gähnende Leere. Doch vor dem Hauptbahnhof zählt eine Countdown-Uhr in alarmroten Ziffern unbeirrt die Tage bis «Tokyo 2020» herunter.
Rettungsplan steht
Eigentlich hätte Olympia schon am Freitag dieser Woche begonnen. Doch wegen der Pandemie sollen die Spiele erst am 23. Juli 2021 eröffnet werden. Am Donnerstag, genau ein Jahr davor, wollen Japans Olympiamacher ein ermutigendes Video veröffentlichen. Seine Botschaft ist nicht schwer zu erraten: Die Spiele sollen als «Symbol der Widerstandsfähigkeit und Hoffnung» (IOC-Präsident Thomas Bach) stattfinden.
Der Rettungsplan steht bereits: Die 43 Sportstätten sind erneut gesichert, die Wettbewerbe folgen dem alten Zeitplan, die Athleten wohnen wie geplant im Olympia-Dorf. Der Unterschied: Statt «höher, schneller, weiter» lautet die Devise von NOK-Präsident Yoshiro Mori nun «sicher, geschützt, vereinfacht». Mori kündigte ein Olympia «ohne grosse Pracht» an, IOC-Chef Bach stellt sich auf «genügsame» Spiele ein. Ihre Wortwahl signalisiert: Die Veranstalter haben sich längst für eine Austragung entschieden.
Viele Milliarden wurden bereits ausgegeben
«Erstens steht das IOC unter extrem grossem Druck: Viele Milliarden wurden schon ausgegeben», sagt die Olympiaexpertin und Japanologin Barbara Holthus. Nur die Geldmaschine der Fernsehrechte kann die leere IOC-Kasse füllen. Die Einnahmen schätzen Insider auf 4 Milliarden Dollar. «Zweitens könnte eine Absage die globale Protestbewegung ‚No Olympics anywhere’ stärken und die Reformrufe lauter werden lassen», meint Holthus. Motiv Nummer drei: Eine Absage wäre eine schwere Niederlage für IOC-Chef Bach, der im nächsten Frühjahr für eine zweite Amtszeit kandidiert.
Den Tokio-Organisatoren liegen über 250 Vereinfachungsvorschläge auf dem Tisch, falls es bis zum nächsten Sommer keinen Impfstoff gibt. Das Fest der Freude würde dann auf eine Sportveranstaltung mit strengen Hygieneregeln schrumpfen. Die 10'500 Olympioniken und ihre Betreuer müssten sich nach zwei Wochen Quarantäne wohl täglich testen lassen und einem strikten Ausgeh- und Besuchsverbot unterwerfen. In den Stadien sässen dann fast ausschliesslich Zuschauer aus Japan, jeder zweite Sitz bliebe leer. Masken wären Pflicht.
Nur 24 Prozent der Japaner ist für Austragung
Doch japanische Experten bezweifeln dieses Szenario. «Sobald sich Athleten infizieren, können weder sie noch ihre Teamkollegen und ihre vorigen Gegner den Wettkampf fortsetze», warnt der Gesundheitsexperte Koji Wada. Auch die Öffentlichkeit ist skeptisch gestimmt: Gemäss einer Umfrage vom Sonntag stehen nur 24 Prozent der Japaner hinter der Austragung der Spiele im nächsten Sommer. Dagegen wollen 34 Prozent sie absagen, 36 Prozent plädieren für eine neuerliche Verschiebung.
Die negative Stimmung hat Folgen: Vor einem Jahr rissen sich die Japaner derart um Eintrittskarten, dass sie verlost werden mussten. Doch als die Organisatoren vor zwei Wochen entschieden, dass die ausgegebenen Karten gültig bleiben, verbreitete sich auf Twitter der Hashtag „Rückerstattung“: Viele Besitzer wollen ihre Karten im Herbst lieber zurückgeben statt zu riskieren, dass sie bei einer Absage der Spiele ihr Geld verlieren.
Ebenso halten sich die nationalen Firmen-Sponsoren zurück, die den Rekordbetrag von fast drei Milliarden Franken in die Olympiakasse einzahlten. Gemäss einer Befragung durch den TV-Sender NHK wollen bisher nur 12 Prozent dieser Unternehmen ihre Verträge, die zum Jahresende auslaufen, verlängern. Zwei Drittel räumten ein, sie seien unentschlossen. Doch für die Olympiamacher in Tokio und Lausanne ist ein Scheitern ausgeschlossen. Unabhängig von der Coronalage wollen sie in einem Jahr das Olympische Feuer von Tokio entzünden.