Was haben sich Papa Wellesley und Mama Jennifer in ihrem kleinen Fischer-Nest Sherwood Content bloss gedacht, als sie für ihren am 21. August 1986 geborenen Buben einen Namen suchten?
Usain Saint Leo. Was bitte soll an diesem jungen heilig sein? Es muss die Idee der Mutter gewesen sein, denn Usain wird von seiner Mama bis heute vergöttert. Papa Wellesley, der ihn noch heute ab und zu zur Vernunft bringt, hat wohl sofort geahnt, dass er seine Gene einem Löwen weitergegeben hat. Einen Raubtier. Zumindest das lässt sich, jetzt knappe 30 Jahre später, sagen.
Aber ein bisschen heilig ist der jamaikanische Sprint-Gott des vergangen Jahrzehnts ja doch. Zumindest jetzt bei den Spielen in Rio. Oben auf dem Corcovado hält Cristo Redentor seine ausgebreiteten Arme über die Olympia-Stadt. Unten im Olympia-Stadion verzaubert Usain Saint Leo Bolt die Fans. Für seine Gegner auf der blauen Kunststoffpiste ist er allerdings auch diesmal wieder – nach Peking und London zum dritten Mal bei Olympia – der gefrässige Löwe.
«In erster Linie bin ich Sprinter», kündigt der schnellste Mann der Welt zwar an. «Aber den meisten Spass habe ich, wenn ich die Leute unterhalten kann.» Welche speziellen Vorstart-Faxen er in Rio auf Lager hat, verrät er noch nicht. Aber die Brasilianer hat er schon vor seit zwei Jahren heiss gemacht. Ausgerechnet am berühmten Parade-Strand, der Copacabana, der sonst den Fast-Nackten und Schönen gehört, hat er seine Herzensbrecher-Kampagne im März 2013 begonnen. Dort, wo sonst aufreizend faules Herumliegen zählt, zeigt er auf einer improvisierten 150-Meter-Piste erstmals seine Sprintkunst und schnappt sich damit besser als jeder Trickdieb die Gunst der Brasileiras und Brasileiros. Die sind jetzt heiss drauf, zu sehen wie ihr heiliger Usain in der Nacht auf Montag MEZ seinen 100er boltert. Und wie er dazu ansetzt, in den folgenden Tagen nach Peking und London zum dritten Mal das Sprint-Triple über 100 m, 200 m und mit der 4x100-m-Staffel zu holen.
Seine Gegner fürchten den Löwen. Usain hat sich in diesem Jahr rar gemacht. Mit 9,88 in Kingston und 19,89 in London bloss sehr punktuell sein Revier markiert. Aber stark genug, damit Gatlin und Co. die Duftmarke riechen.
Vergessen wir die leichten Beschwerden, die Bolt bei den Jamaika-Trials zum Forfait zwangen. Das war eine Lapalie, die der Münchner Doc Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt mit wenigen Griffen wieder gerade richtete. «Ich habe wunderbar trainiert, bin zu allem bereit», kündigt Usain in Rio immerhin an. Mit dem Zusatz: «Ich möchte die 200 Meter so gerne unter 19 Sekunden laufen.» Den Gegnern stockt der Atem – Bolt ist das zuzutrauen. Selbst der grosse US-Sprinter Michael Johnson – 1996 Olympiasieger über 200 und 400 m, heute BBC-Experte – sagt: «Usain wird in Rio viel stärker sein, als in den Jahren 2014 und 2015. Erstmals konnte er wieder von Oktober bis Mai beschwerdefrei trainieren. Das war in den letzten beiden Jahren nicht der Fall.»
Und Usain selbst hat in den zehn Tagen, während derer er bereits in Rio weilt, perfekt den Löwen gegeben. «Die Eröffnungsfeier hat mich nicht interessiert. Ich war zu faul, um hinzugehen», hat er erklärt. Und dann hat er beim Auftritt für seinen Ausrüster Puma schon einmal die Puppen tanzen lassen. Usain inmitten von Samba-Girls. Jetzt ist der Löwe hungrig. Bereit für die Jagd. «Ich bin ready, schnell zu laufen und Spass zu machen», kündigt er an.
Die perfekte Ansage für ein weiteres grosses Leichtathletik-Spektakel. Ab sofort heisst es in Rio: Bühne auf für Usain Saint Leo Bolt!