Sieben Gründe für den Frauen-Boom
Der Schweizer Olympia-Erfolg ist weiblich

Seit Rio 2016 ist kein Schweizer Mann mehr Olympiasieger geworden. Die Schweizer Medaillen holen vor allem die Frauen. Auch in Paris. Das sind die Gründe dafür.
Publiziert: 11.08.2024 um 19:27 Uhr
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Den einzigen Schweizer Olympiasieg in Paris holt eine Frau: Schützin Chiara Leone lässt sich feiern.
Foto: keystone-sda.ch

Die einzige Schweizer Olympiasiegerin von 2024 ist mit Chiara Leone eine Frau. Das ist keine Überraschung: In der Schweizer Paris-Bilanz liegen die Frauen mit den Podestplätzen von Leone, Derron, dem Beach-Duo Hüberli/Brunner, Schützin Audrey Gogniat und BMX-Star Zoe Claessens gegenüber den Männern (Schwimmer Roman Mityukov, Reiter Steve Guerdat, Ruder-Team Gulich/Röösli) vorne und bleiben es auch. 

Die Frauen stellen die Männer in den Schatten. Einmal mehr. Schon in Tokio ragten die Frauen mit 10 von 13 Medaillen heraus. In Paris hat sich die Ausbeute nun auf erwartbarem Niveau eingependelt. Mit den Frauen als treibende Kräfte unseres Erfolgs. 

Das sind die Gründe für den Frauen-Boom: 

Die Quotenregelung vom IOC

62 – so viele Frauen waren noch nie in einer Schweizer Delegation für die Sommerspiele. Das liegt einerseits an der grössten Delegation seit den Spielen vor 40 Jahren. Aber es liegt auch an der für Paris eingeführten Geschlechterquote. Das IOC forderte von den Nationen erstmals, dass sie gleich viele Frauen wie Männer an den Start bringen. Swiss-Olympic-Delegationsleiter Ralph Stöckli zu Blick: «Da muss man dem IOC ein Kränzchen winden. Es gab einigen Widerstand gegen die Einführung, aber sie haben darauf bestanden.»

Der Tenor in vielen Nationen weltweit war: Wir sind einfach noch nicht soweit. Die Schweiz hatte allerdings die Quotenregel bereits für Tokio 2021 antizipiert (49% Frauen, 51% Männer). Nun in Paris waren es 48% Frauen in der Delegation. Stöckli schildert, dass eine exakte 50:50-Aufteilung kaum erreichbar ist: «Es war zum Beispiel so, dass sich bei letzter Gelegenheit noch ein Ruder-Vierer der Männer qualifiziert hat.» Obwohl in der Schweiz mittlerweile seit Jahren in vielen Sportarten Frauenförderungsprojekte laufen, sagt Stöckli aber klar: «Für den grössten Schub sorgte die Quotenplatzregel.» 

Förderung durch die Verbände

Stöckli lässt durchblicken, dass die Olympia-Geschlechterquote auch in den Schweizer Verbänden für Diskussionen sorgte. Der Tenor: Wie nur sollen wir an genügend konkurrenzfähige Frauen herankommen? Doch immer mehr Sportverbände erkannten in den letzten Jahren, dass sich konkrete Frauenförderung lohnt.

Ein Beispiel aus dem Rudersport, der traditionell stark männlich geprägt war: Beim Projekt, mit jungen Frauen ein Vierer-Boot zu lancieren, schauten zwei Nachwuchs-Weltmeistertitel, die erste Olympia-Quali und in Paris eine haarscharf verpasste Bronzemedaille heraus. Im Radsport gibt Swiss Cycling mit dem Projekt #fastandfemaleSUI im Amateur- und Spitzensportbereich seit Jahren Gas.

Swiss Athletics führt regelmässig ein Frauenforum durch – da sich die Leichtathletik auf Athletinnenebene keine grossen Sorgen um weiblichen Nachwuchs machen muss, gehen die Anstrengungen auch in die Richtung, mehr Frauen für Funktionärsaufgaben zu begeistern. Auch beim Turnverband zielt das Frauenförderprojekt zentral auf die Quote bei den Ämtern. Auch Dachverband Swiss Olympic betreibt sein Projekt «Frauen und Spitzensport» seit Jahren. Auch Jugend+Sport kennt ein Modul «Förderung von Mädchen und jungen Frauen».

Die staatliche Förderung

An den Spielen vor 100 Jahren ebenfalls in Paris war die Schweizer Delegationsgrösse mit 127 Personen fast ebenso gross wie 2024 (132). Doch 1924 sind nur vier Frauen darunter. «Das waren mehr oder weniger einfach Frauen, die sich die Reise leisten konnten», sagt Stöckli. Natürlich musste auch ausreichendes sportliches Niveau vorhanden sein. Aber dass dieses Quartett damals direkt vom Staat gefördert worden ist – völlig undenkbar.

Noch viele Jahrzehnte lang existierte in der Schweiz kaum staatliche Sportförderung, auch nicht wirklich für Männer. Eine Zeitenwende ist 2012 die Inkraftsetzung der Totalrevision des Sportförderungsgesetzes. Nun gehen die finanziellen Beiträge viel gezielter in den Nachwuchs und in den Spitzensport, auch in Randsportarten. Und: Jetzt profitieren viel häufiger auch Mädchen und Frauen. Ganz direkt passiert das via Armee. In der Spitzensport-RS in Magglingen kann professionell trainiert werden und man ist finanziell dank des Erwerbsersatzes abgesichert.

Im aktuellen Frühlings-Jahrgang befanden sich unter den 64 Eingerückten 14 Frauen, darunter zum Beispiel die Fussballerin Aurelie Csillag, die bereits in der A-Nati spielt. Beim Start des Spitzensport-RS-Projekts vor 20 Jahren war keine einzige Frau im Dienst. 

Rücksicht auf den weiblichen Zyklus

Viele Trainingslehren, gerade auch im Breiten- und Kindersport, basieren auch heute noch ganz selbstverständlich auf den Bedürfnissen von männlichen Körpern. Dass im Frauensport die Biologie des weiblichen Körpers und die Auswirkungen des Menstruationszyklus auf die Leistungsfähigkeit als Faktoren berücksichtigt werden, ist relativ neu.

Gemäss Swiss Olympic befassten sich 2021 nur sechs Prozent der sportwissenschaftlichen Studien mit dem Training von Frauen. Die Tendenz ist aber klar: steigend. In der Schweiz unternimmt Swiss Olympic seit einigen Jahren mit Projekten wie «Frauen und Spitzensport» und Kampagnen wie «fastHER, strongHER, smartHER» viel in diese Richtung.

Von Adrian Rothenbühler, Trainer von Stab-Star Angelica Moser und früher von Mujinga Kambundji, stammt ein Paper in der Swiss-Olympic-Kampagne, wie der weibliche Zyklus ins Training integriert werden kann. Es ist ein Dreistufenplan mit dem Ziel, dass auf der letzten Stufe die hormonellen Schwankungen während des Zyklus für eine Leistungsoptimierung zu nutzen. 

Weniger internationale Konkurrenz

Es ist reines Kalkül, gehört aber zu einer ganzheitlichen Planung dazu, wenn Erfolgsaussichten berechnet werden. Weil ausserhalb von Europa die Frauenförderung in vielen Ländern noch in den Kinderschuhen steckt, ist in vielen Sportarten die Leistungsdichte bei den Frauen relativ gering. Also ist der Weg an die Weltspitze durchlässiger. Sprich: Die Aussicht auf Medaillen sind grösser als bei den Männern, 

Frauen treiben immer mehr Sport

Die Schweiz zählt zu den sportlichsten Ländern Europas. Gemäss der Studie «Sport Schweiz» vom Baspo steigt in der Bevölkerung der Anteil aller Frauen, die mehrmals täglich pro Woche Sport treiben, markant an. Im Jahr 2000 sind es noch 32 Prozent, 2020 bereits 51 Prozent. Die logische Folge: Es kommen auch immer mehr Frauen an die Spitze.

Bestes Beispiel ist der Schiesssport, der in Paris mit den beiden Medaillen von Leone und Gogniat als einzige Sportart mehrfach abräumte. Im Leistungszentrum in Biel sind die Frauen in Überzahl. Leistungssportchef Daniel Burger: «Es hat momentan einfach mehr Frauen als Männer, die den nötigen Biss für den Spitzensport mitbringen.» Der SSV überlegt sich sogar Massnahmen, wie man wieder mehr Männer für eine Sportkarriere begeistern könnte.

Die Corona-Pandemie hatte zwar einen bremsenden Einfluss auf den Sportboom, gemäss der Studie «Sport Schweiz light» von 2022 aber schwangen während der Covid-Phase sogar positive Aspekte mit. Gerade bei Frauen. So gaben deutlich mehr Frauen als Männer an, dass sie während der Pandemie ihr Sportverhalten positiv verändern konnten.

Der Sport profitiert auch von gesellschaftlichen Strömungen. Nicht zuletzt wegen Social Media haben sportliche Körper stark an Bedeutung gewonnen, der Gang ins Gym ist gerade bei der jungen Generation deutlich alltäglicher geworden als noch vor 30 Jahren. Auch im Spitzensport zeigt sich gemäss der Studie «Leistungssport Schweiz» ein klarer Trend. Der Anteil an Topsportlerinnen, die ein Profileben führen, ohne nebenher zu arbeiten, ist seit 2011 auf 34% angestiegen. 

Immer mehr Vorbilder

Mädchen und junge Frauen haben heutzutage weibliche Vorbilder. Frauen als Idole, neudeutsch «Role Models». Gut illustrieren lässt sich dieser Effekt am Frauenfussball. Nati-Spielerin Ramona Bachmann eiferte zu Beginn ihrer Karriere Lionel Messi nach, denn: «Ich kannte keine Frau, die Fussball spielte.» Jetzt spielt sie in der Nati mit jungen Spielerinnen zusammen, die als Kind so kicken wollten wie Bachmann.

Das Beispiel aus Paris? Silber-Triathletin Julie Derron hatte mit Olympiasiegerin Nicola Spirig jahrelang ein weibliches Vorbild direkt in der Trainingsgruppe. Einen regelrechten Frauen-Boom erlebt die Leichtathletik. Eben auch, weil Mujinga Kambundji an der Heim-EM 2014 einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde und viele Mädchen auf die Tartanbahn brachte. Und mit dem UBS Kids Cup ein geeignetes Förderprojekt bereitstand, das immer auch für weibliche Talente offen stand. Beim Thema Idol spielt aber auch das Internet und Social Media eine grosse Rolle. Eine Story wie diejenige von Turnerin Simone Biles wird heute auch dank den sozialen Medien von Mädchen weltweit als Inspiration hergenommen. 

Diese Probleme bleiben

Der Weg des Schweizer Frauensports stimmt, aber er bleibt steinig. Ein Beispiel aus dem Radsport zeigt eines der Probleme. Die Einführung der Tour de Suisse der Frauen war 2021 ein Meilenstein. Doch vor der diesjährigen Ausgabe schlugen die Organisatoren Alarm. Es drohte ein Finanzloch. Tour-Direktor Olivier Senn im April: «Alle schreien nach Gleichberechtigung, aber kaum einer ist bereit, das Portmonnaie zu öffnen.» Die Ausgabe 2025 ist zwar geplant. Ob sie stattfindet? Offen. 

Während es bei der Athletinnen-Quantität Fortschritte gibt, sieht der Frauenanteil im Trainer- und Funktionärsbereich düster aus. Auch der Blick auf die Schweizer Medaillengewinnerinnen Leone, Derron, Gogniat, Hüberli/Brunner und Claessens zeigt, dass sie allesamt von Männern trainiert werden. Bundesrätin und Sportministerin Viola Amherd wollte mit der neuen Sportförderordnung ab 2025 alle Sportorganisationen verpflichten, in den Führungsgremien einen Frauenanteil von 40 Prozent zu erlangen. Es gab aber soviel Widerstand, dass Amherd zurückruderte und diese Quote nur noch bei Swiss Olympic und nationalen Verbänden verlangt. Ein Punkt, der sicher auch in der Kampfwahl ums Swiss-Olympic-Präsidium mit den Kandidierenden Ruth Metzler-Arnold, Sergej Aschwanden und Markus Wolf noch zum Thema wird.

Teilweise viel Luft nach oben gibts auch weiterhin beim Grad der Professionalisierung von Training, Infrastruktur, Ausrüstung und so weiter. Hier illustriert an zwei Beispielen aus dem olympischen Umfeld. Da ist Mountainbike-Star Jolanda Neff, die wegen ihrer Atemprobleme auf Paris verzichtete. Die Ursache, dass es an den Stimmbändern liegt, wurde zu kurzfristig vor den Spielen entdeckt. Zuvor tappte Neff jahrelang im Dunkeln, wurde sogar mit im Nachhinein gesehen nutzlosen Medikamenten behandelt. Dass eine der besten Fahrerinnen in einem der renommiertesten Weltcup-Teams (Trek aus den USA) erst nach einem Hilferuf bei Swiss Cycling zur richtigen Diagnose gelangte, stellt dem Professionalisierungsgrad im Mountainbike-Zirkus nicht gerade ein gutes Zeugnis aus. Das zweite Beispiel stammt aus dem Rudersport, wo Männer und Frauen praktisch denselben Umfang trainieren, was kaum der modernen Sportwissenschaft entspricht.

Noch reicht es den Schweizer Frauen zu olympischen Medaillen – doch an solchen Mankos muss gearbeitet werden, soll der Frauen-Boom in Los Angeles 2028 weitergehen.

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